England kann am Sonntag zum ersten Mal seit 1966 einen großen Titel gewinnen. 58 Jahre hat das Land auf diesen Moment gewartet. Die Sehnsucht ist groß, die Vorfreude riesig. Die emotionale Explosion wäre es im Erfolgsfall auch. Allerdings ist auch die Fallhöhe nicht ohne. Stichwort: Trauma.
Gary Lineker bringt es auf den Punkt. Denn am Ende ist alles egal. Es ist vollkommen unwichtig, wie die englische Nationalmannschaft durch die EM gestolpert ist. Es ist nebensächlich, wie viel Glück sie hatte. Wenn am Sonntagabend im Finale gegen Spanien der erste Titelgewinn seit 1966 unter Dach und Fach sein sollte, ist eine der größten Sehnsüchte im Fußball endlich gestillt.
Dann werden Emotionen freigesetzt, die man wahrscheinlich nur schwer nachempfinden kann. Denn für die Engländer ist es nicht einfach nur der Pokal, den sie dann mit nach Hause nehmen dürfen. Oder ein zweiter Eintrag auf dem Briefkopf neben dem WM-Titel, der nun schon 58 Jahre zurückliegt.
"Das Land wird verrückt werden. Das Land ist bereits verrückt geworden. Die Erwartung und die Hoffnung sind schon so lange da", sagte Legende Lineker im ARD-Interview. Und verriet, dass er sich gerne den langweiligen englischen Fußball bei dieser EM anschaut, wenn er denn erfolgreich ist. Und das ist er, die "Three Lions" stehen trotz der spielerisch überschaubaren Leistungen zum zweiten Mal in Folge im EM-Endspiel. "Es ist ein Lebensziel von mir, mal zu sehen, wie England irgendetwas gewinnt", sagte Lineker. Und das ist nicht übertrieben.
England ein sehr stolzes Land
Vielmehr steht seine Aussage stellvertretend für eine ganze Nation. Die einen harren seit 58 Jahren aus und hoffen auf einen weiteren, speziellen Moment, die anderen haben ihn noch nie erlebt. Was im krassen Widerspruch zum englischen Selbstverständnis steht. "England ist traditionell ein sehr stolzes, ein von den eigenen fußballerischen Fähigkeiten sehr überzeugtes Land", sagte England-Experte Sebastian Kneißl im Gespräch mit unserer Redaktion.
"Sollte jetzt der Titel herauskommen, gibt es eine riesige Erleichterung, gepaart mit unbändigem Stolz. Dass man nach außen hin zeigt, dass man nicht nur die stärkste Liga der Welt, sondern europaweit auch die beste Nationalmannschaft hat. Sie lechzen danach, auch auf dieser Ebene endlich ein Ausrufezeichen setzen zu können."
Denn man spreche immerhin von mehreren Generationen, die noch nie einen Titel miterlebt hätten, betont Kneißl. So sitzen bei der EM Kinder mit ihren Papas auf den Tribünen, "und beide wissen nicht, wie es sich anfühlt, mit England etwas zu gewinnen. Und dann ist beim Titelgewinn vielleicht sogar noch der Opa dabei, der 1966 miterlebt hat, und der fängt an zu weinen", so Kneißl. "Was das Thema Pathos angeht, ist England ganz vorne." Dass der Coup auch noch im Land des großen Rivalen klappen könnte, ist die Kirsche auf der Torte.
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Ein bisschen Fatalismus
Unterhält man sich mit englischen Fans, schwingt dazu aber auch immer ein bisschen Fatalismus mit, kombiniert mit feinem britischem Humor. Sie haben eine gesunde Portion Selbstbewusstsein, wissen vor allem im Moment, dass sie den wohl besten Kader des Turniers und womöglich in ihrer eigenen Geschichte haben und damit alle Möglichkeiten. Viele Fans haben allerdings schon jede Menge erlebt, vorwiegend Rückschläge. Sie gehen angesichts der möglichen Enttäuschung bei aller Vorfreude zum Teil auch schon mal vorsichtshalber in Deckung.
Lineker hat jetzt sogar eine legendäre Liedzeile "verboten": Er will "Football’s coming home" aus dem Lied "Three Lions" nicht mehr hören. "Ich verbanne diese Aussage. Sie hat so lange Pech gebracht", sagte er der BBC. Man muss dazu wissen: Die Fans singen das Lied noch heute voller Inbrunst. Der Song spielt mit der englischen Sehnsucht, er kam 1996 heraus und beweinte damals "30 Years of hurt". Als er zwei Jahre später zur WM 1998 neu aufgelegt wurde, wurden daraus in einer etwas optimistischeren Tonalität "No more Years of hurt". Geholfen hat es auch nicht.
Denn was hinzukommt, ist das Scheitern, das England fast schon perfektioniert hat. Ob nun sehr frühzeitig und sang- und klanglos, oder dramatisch in diversen Elfmeterschießen, gerne auch gegen die deutsche Nationalmannschaft. Oder aber eben ganz kurz vor dem Ziel, wie 2021, als man sogar vor eigenem Publikum im EM-Finale gegen Italien unterlag. Ja klar, im Elfmeterschießen natürlich. All das hat ein nationales Trauma entwickelt und mit den Jahren verstärkt.
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Dazu hat es Nationaltrainer Gareth Southgate bei aller Kritik in den vergangenen Jahren geschafft, wieder mehr Menschen hinter der Nationalmannschaft zu versammeln, mit dem WM-Halbfinale 2018 und dem EM-Endspiel 2021 lieferte er zudem Ergebnisse. Damit hat er die Leute abgeholt. "Er hat die Gefühle und auch die Wünsche, diese große Vision von einem Titel, in den Menschen geweckt. Dann bist du den Menschen nah", sagte Kneißl. Der Nachteil: "Er hat eine große Fallhöhe eingebaut."
Ein Land der Extreme
Denn England ist "generell ein Land der Extreme", weiß Kneißl. Grautöne gibt es da nicht, oder emotionale Weichzeichnungen. "Entweder du hast danach den Glauben, dass man jetzt alles gewinnen kann. Oder das Trauma bleibt, dass man eben nichts gewinnen kann. Und das brennt sich noch mehr ein", so Kneißl, der von englischen Kollegen auf seine Frage, ob die EM nur eine erfolgreiche EM sei, wenn England den Titel hole, als einhellige Antwort ein "Ja" bekam. "Und damit glaube ich auch, dass es bei einer Niederlage das andere Extrem werden wird. Dann werden sie sehr tief fallen", sagte er.
Wie extrem die Extreme sein können, zeigt das Beispiel Ollie Watkins. Im Vorfeld hieß es, es sei eine Katastrophe, dass der Stürmer dabei ist. "Dann schießt er das entscheidende Tor gegen die Niederlande und alle sagen: 'Watkins, der König Englands'", so Kneißl.
Könige Englands: So ähnlich dürfte der Status der Spieler aussehen, wenn sie am Ende tatsächlich den Titel holen. Es ist nicht einfach nur ein Titelgewinn, der alleine für sich genommen schon speziell genug ist. "Es geht bei den Engländern ganz viel um Gefühle. Und es ist definitiv so, dass sie sich damit unsterblich machen würden. Sie sind dann für immer in den Köpfen, und für immer in den Herzen", sagte Kneißl.
Aufwertung für das Land
Und natürlich sei so ein Titel auch eine Aufwertung für das Land, betonte Kneißl. Nach dem Motto: Wir haben etwas gemeinsam erreicht. "So verbessert sich automatisch das Image. Dazu kommt auch die Möglichkeit, dass man dadurch in gewisser Weise eine größere Marke ist. Das ganze Land profitiert davon, nicht nur emotional, sondern auch wirtschaftlich", so der 41-Jährige.
Keine Frage: Die historische Chance berührt die fußballbegeisterte Nation, hat sie emotional komplett im Griff. Denn es geht auch um die langfristige Zukunft der Nationalmannschaft, wie die todkranke Trainerlegende Sven-Göran Eriksson in einem im Telegraph veröffentlichten Brief an
"Lieber Gareth, tu es für mich, Sir Bobby und England", schrieb der Schwede und betonte: "Man kann gar nicht hoch genug einschätzen, wie wichtig der Sonntag für die Zukunft des englischen Fußballs sein könnte. Über Generationen hinweg werden junge Mädchen und Jungen für den Fußball begeistert werden."
Alles ist möglich
Angesichts der Fallhöhe stellt sich die Frage: Wie gehen die Fans in dieses Finale? Geht die Angst um? "Bei ihnen ist es pure Vorfreude", so Kneißl. "Die Mannschaft ist in der Rolle des Underdogs. So realistisch sind sie. Aber sie wissen auch, dass in diesem einen Spiel alles möglich ist." Und dann ist es auch vollkommen egal, wie der Titel am Ende zustande gekommen ist. Denn dann ist eine der größten Sehnsüchte im Fußball endlich gestillt.
Über den Gesprächspartner
- Sebastian Kneißl wagte 2000 mit nur 17 Jahren als vielversprechendes Talent (U19-Vize-Europameister) den Sprung von Eintracht Frankfurt zum FC Chelsea, kam dort aber nicht bei den Profis zum Einsatz. Er spielte anschließend unter anderem für Fortuna Düsseldorf und Wacker Burghausen. 2014 beendete Kneißl aufgrund einer Sportinvalidität seine Profikarriere. Seit 2016 ist er unter anderem bei Dazn als Experte tätig.
Verwendete Quellen
- sportschau.de: "Lineker rechnet mit Southgates Abschied nach EM"
- telegraph.co.uk: "Dear Gareth – do it for me, Sir Bobby and England"
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