Rational ist der Untergang des FC Barcelona beim FC Liverpool schwer zu erklären. Aus emotionaler Sicht erscheint das Ausscheiden von Lionel Messi im Halbfinale der Champions League dagegen weniger überraschend. Unser Autor ist seit Jahren Fan der "Reds" und kennt den Mythos Anfield Road aus eigener Erfahrung.

Fabian Teichmann
Meine Meinung

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Anstoß! Es ist der 17. November 2012, 16 Uhr: ein kühler und trüber Herbsttag, englisches Wetter in Liverpool. Die "Reds" treffen an der heimischen Anfield Road auf Wigan Athletic.

Die Partie verspricht kein Highlight zu werden. Der FC Liverpool steckt unter Trainer Brendan Rodgers tief in der Krise, hat in der laufenden Saison erst ein Heimspiel gewonnen und dümpelt in den Niederungen der Tabelle vor sich hin.

65 Minuten später versagt meine Stimme, dickere Klöße im Hals habe ich nur am Tag meiner Hochzeit und nach der Geburt meines Sohnes einige Jahre später. Meine Knie zittern bedenklich, Tränen in den Augen - das volle Programm.

Linksverteidiger José Enrique hatte gerade das 3:0 für den FC Liverpool erzielt - in einem gewöhnlichen Ligaspiel gegen die Fußballgiganten aus Wigan. Für mich ist das zu viel. Die Wucht der Anfield Road erschlägt mich.

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Europapokal und Liverpool - Eine Liebesgeschichte

Es ist mein zweites Mal in diesem Stadion, aber mein erstes Mal auf "The Kop" - und nun wird mir schlagartig bewusst, warum diese Tribüne die vielleicht legendärste weltweit ist.

Anfield ist ein spezieller Ort, an dem außergewöhnliche Dinge geschehen - auch und vor allem dann, wenn die Flutlichter angehen und der LFC mit der Unterstützung seiner Fans auf die Jagd nach Europas Fußballkrone geht.

Legendäre Beweise dafür: die 70er- und 80er-Jahre, in denen der Klub aus dem Nordwesten Englands insgesamt viermal den Europapokal der Landesmeister gewinnt und Spieler wie Kenny Dalglish, Steve Heighway und Ian Rush zu Vereinsikonen werden.

Aktueller Beweis dafür: das "Wunder von Anfield" gegen den FC Barcelona. Lionel Messi und Co. scheiterten im Rückspiel des Champions-League-Halbfinales mit 0:4 gegen eine übermächtige Liverpooler Mannschaft. Mal wieder eine magische Nacht, mal wieder eine Partie mit Kultpotenzial.

Getragen wurde das Team um Kapitän Jordan Henderson von der Atmosphäre an der Anfield Road. Über 90 Minuten sorgten die Zuschauer für eine elektrisierende Stimmung. Das Stadion bebte vom legendären "You'll Never Walk Alone" vor der Partie bis weit über den Abpfiff hinaus.

"There's no noise like the Anfield noise"

Jürgen Klopps kompromisslose Pressingstrategie und der unbändige Wille seiner Spieler in allen Ehren, aber ohne die Unterstützung der Anhänger wäre das Comeback gegen die Katalanen niemals möglich gewesen.

In und um Liverpool stößt man immer wieder auf ein Zitat, das die Atmosphäre im Stadion perfekt beschreibt: "There's no noise like the Anfield noise." Also: "Kein Lärm ist wie der Anfield-Lärm." Doch warum ist das so? Große Arenen mit zehntausenden enthusiastischen Anhängern und tollen Fangesängen gibt es doch in ganz Europa.

Aber wenn die Scousers, wie die Einwohner in der Region um Liverpool aufgrund ihres Dialekts genannt werden, ihre Lieder auf "The Kop" anstimmen, hat das wenig mit klassischen Fangesängen zu tun.

Aufgrund der besonderen Akustik unter dem Dach der Tribüne in Kombination mit der grenzenlosen Leidenschaft der Menschen darauf haben die Sprechchöre einen flehentlichen Unterton.

Ob jung oder alt, Frau oder Mann: Liverpool-Fans singen im Stadion nicht, sie beten für ihre große Liebe. Ihre Kirche ist Anfield.

Leben in Anfield - Nichts als Fußball

Vor allem an Spieltagen wird die beispiellose Verbindung der Menschen zu ihrem Klub deutlich. Jeder im Viertel ist rot gekleidet. Die Straßen rund ums Stadion sind gesperrt. Alles Leben abseits des Fußballs steht still. Menschen strömen aus der ganzen Stadt zu Fuß Richtung Stadion, zum Gottesdienst.

In sehr vielen Fällen hat die Liebe der Einheimischen zum LFC einen ernsten Hintergrund. Liverpool war immer Arbeiterstadt und ist es nach wie vor. Schwere wirtschaftliche Probleme und hohe Arbeitslosigkeit prägten vor allem die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.

So blieb vielen nur der Fußball. Die Bewunderung sportlicher Leistungen als Ausbruch aus dem tristen Arbeitsalltag. Diese Grundeinstellung ist trotz Wucherpreisen für Tickets bis heute fest in der DNA dieses Vereins verwurzelt.

Die Ränge des Stadions triefen geradezu vor Tradition, Hingabe und Leidenschaft. Und sie strahlen eine wahnsinnige Motivation auf den Rasen aus. Unzählige Spiele wurden dadurch in der Vergangenheit entschieden.

Auch Lionel Messi und sein FC Barcelona haben diese Erfahrung nun machen müssen und waren letztlich chancenlos gegen Jürgen Klopps Team und dessen zwölften Mann. Denn Fußball in Anfield ist sehr viel mehr als nur ein Spiel. Er ist Religion.

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