Ex-Manager Reiner Calmund gilt als einer der Väter des aktuellen Erfolgs von Bayer Leverkusen. Im Interview ordnet der 75-Jährige seinen eigenen Anteil ein und spricht über den emotionalen Meistertitel sowie die Zukunft der Mannschaft von Xabi Alonso.
Für viele Fußballfans ist der erste Meistertitel von Bayer Leverkusen nicht nur ein Verdienst der aktuellen Mannschaft um Trainer
Unsere Redaktion hat mit "Calli", der "stolz wie Bolle" ist, über das endgültige Ende der "Vizekusen"-Ära, seine Emotionen nach dem Titelgewinn und die Zukunft der Meistermannschaft gesprochen.
Herr
Reiner Calmund: Nicht so wirklich. Die Gedanken gehen immer wieder zurück zum Sonntag, zu diesem grandiosen Spiel, dieser unbändigen Freude. Die südamerikanische Kulisse mit dem restlos vollen Stadion – inklusive Innenraum – hat schon an meiner Seele gekratzt. Es war sehr intensiv, die Menschen Freudentränen vergießen zu sehen. Wir hatten es schon anders.
Haben Sie die Meisterschaft mit
Ich habe ein paar Worte mit Xabi Alonso,
Wer hat Ihrer Meinung nach den größten Anteil an dieser gigantischen Saison, die ja noch nicht zu Ende ist?
Von der Scouting-Abteilung über die Geschäftsführung, den Staff und die Spieler kommt man am Ende immer zu diesem Trainer. Was Xabi Alonso geleistet hat, ist die Krönung eines Gesamt-Kunstwerkes. Deshalb besitzt er den größten Anteil daran – ohne dass man die anderen Beteiligten vergessen darf. Dass dies nicht passiert, dafür sorgt der Trainer ja selbst. Wir erinnern uns daran, wie er nach dem Sieg gegen die Bayern das ganze Team hinter dem Team in die Fan-Kurve gewunken hat. Das war großes Kino.
Vom Manager zum Edelfan – Calmund: "Bin stolz wie Bolle"
Wie würden Sie Ihren eigenen Anteil beziffern? Für viele gelten Sie als einer der Väter dieses Erfolgs, auch wenn Ihre Amtszeit einige Jahre zurückliegt.
Nein, das würde ich mir nicht anmaßen. Alles hat seine Zeit. Meine ist seit 20 Jahren vorbei. Allerdings bin ich Fan dieses Klubs und deshalb stolz wie Bolle. Dass wir hier seit dem Aufstieg 1979 eine Menge auf die Beine gestellt haben, kann und will uns keiner nehmen. Wenn Sie so wollen, dann kann man unwidersprochen sagen, dass wir das Fundament gegossen haben. Ein starkes Fundament, wenn man bedenkt, dass nur der FC Bayern und der BVB länger am Stück in der Bundesliga sind als Bayer Leverkusen.
Verspüren Sie ein Stück weit Genugtuung, ein knappes Vierteljahrhundert nach den knapp verpassten Meisterschaften und der anschließenden "Vizekusen"-Zeit? Den damaligen Protagonisten wie Christoph Daum bis
Natürlich gab es die. Großartig fand ich, als Xabi Alonso die ehemaligen Trainer wie Christoph Daum und Klaus Toppmöller erwähnte. Das hatte Größe. Wir haben damals auch Großes geleistet, uns fehlte im richtigen Augenblick das Glück. Rudi Völler sagte mir einmal, dass wir 2002 ganz sicher einen Titel geholt hätten, wenn wir nicht in allen drei Wettbewerben so weit gekommen wären. Da liegt ein großes Stück Wahrheit drin. Am Ende ging es an die Substanz, so fehlten im Champions-League-Finale mit dem verletzten Jens Nowotny und dem gesperrten Zé Roberto zwei Schlüsselspieler – das konnten wir dann nicht mehr kompensieren.
Hatten Sie wirklich noch ernsthaft Sorge, dass es schiefgehen könnte oder wussten Sie insgeheim, dass der Tag kommen wird? Ich spiele auf Ihre Aussage "Ich habe so viel Scheiße erlebt" an …
Nein, das war wirklich mein voller Ernst. Wir hatten 2002 drei Spieltage vor Schluss bei zwei Heimspielen und der Partie in Nürnberg fünf Punkte Vorsprung vor Borussia Dortmund. Es ist bekannt, wie es ausging. Sowas bleibt tief in mir hängen. Deshalb wollte ich nichts vom Titel hören, ehe er nicht rechnerisch unter Dach und Fach war.
Xabi Alonso hat sich für eine Zukunft in Leverkusen entschieden. Ist das für Sie ein entscheidender Schritt, damit diese Meistermannschaft kein One-Hit-Wonder bleibt? Was trauen Sie der Werkself in den kommenden Jahren zu?
Ich denke, diese Entscheidung des Trainers wird großen Einfluss auf die Spieler haben.
Die Bayern haben gratuliert, aber bereits auch eine Kampfansage in Richtung Leverkusen geschickt. Wird der FCB die Schale zurückholen können?
Natürlich kann er das. Weil er das vor jeder Saison kann. Der Transferwert des Teams vom FC Bayern liegt bei rund einer Milliarde. Die Spielerwerte von Bayer Leverkusen, RB Leipzig und Borussia Dortmund liegen jeweils um die 500 Millionen. Die Bayern stellen bei der kommenden EM mit Sicherheit auch wieder das größte Spielerkontingent.
Gehen Sie davon aus, dass das DFB-Team bei der Heim-EM im Sommer von dem guten Momentum der Leverkusener und Stuttgarter profitieren wird?
Das kann sein, so wie es 2002 die Leverkusener Ballack, Neuville, Schneider, Ramelow und der leider kurz vor der WM mit einem Kreuzbandriss verletzte Nowotny waren, die entscheidenden Anteil daran besaßen, dass Deutschland mit Trainer Rudi Völler ins WM-Finale kam. Ich traue Wirtz – auch unabhängig vom Momentum – ohnehin eine Weltkarriere zu. Ich habe selten einen 20-Jährigen gesehen mit diesen Führungsqualitäten, dieser Lust und Gier auf den Sieg. Er versteckt sich nie, geht immer wieder ins Dribbling, sucht das Tor – ist sich aber auch nicht zu schade, nach hinten auszuhelfen. Ein großer Spieler, jetzt schon. Ich bete zum lieben Gott, dass er gesund bleibt. Der VfB Stuttgart wird sich mit seinem großartigen Offensiv-Fußball vermutlich für die Champions League qualifizieren. Ich rechne fest mit ihren Leistungsträgern Waldemar Anton, Maximilian Mittelstädt und Deniz Undav im DFB Kader.
Leverkusen hat in dieser Saison nicht jedes Spiel klar gewonnen, es waren auch einige Last-Minute-Tore dabei, so wie zuletzt beim 1:1 gegen den BVB. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass die Alonso-Elf vor allem in den Schlussminuten so effektiv ist?
Schaut man sich diese Spiele an, dann sieht man auch, dass Bayer in fast allen Fällen hoch überlegen war – meist von Beginn an. Es gab selten Spiele, in denen der Gegner nicht sturmreif geschossen werden konnte. Dieses "Dranbleiben", diese Mentalität, machen auch den Meister aus. Wer bis zum Schluss daran glaubt, dass man die Bude trifft, der wird eben häufiger belohnt als die, denen nichts mehr einfällt.
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Es kommt zur Neuauflage des Europa-League-Halbfinals aus dem Vorjahr gegen die AS Rom. Man ist also gewarnt. Wie stark schätzen Sie die Römer diesmal ein?
Inter Mailand führt die Tabelle souverän an und ist der neue italienische Meister. Dahinter kämpfen der AC Mailand, Juventus Turin, Bologna und der AS Rom um die weiteren Champions- beziehungsweise Euro-Plätze. Es wird mit Sicherheit in Rom und Leverkusen ein heißes Tänzchen.
Warum gelingt jetzt auch das kleine Triple aus Meisterschaft, Pokal und Europa League?
Ich weiß nicht, ob es gelingt. Sie wollen jedes Spiel gewinnen, also müssen sie entsprechend investieren. Schon Kaiserslautern ist ein ekliger Gegner in Berlin. Da wird mein alter Freund Friedhelm Funkel Beton anrühren, da holst du dir erstmal ein paar Beulen. So naiv wie die Düsseldorfer Fortuna spielte, wird er seine "Roten Teufel" nicht rausschicken. Die werden mit Mann und Maus verteidigen und versuchen, Nadelstiche zu setzen.
Es ist nicht so, dass Bayer 04 früher überhaupt keine Titel gewonnen hätte. In Ihrer Zeit gewann man den UEFA-Cup (1988) und den DFB-Pokal (1993). Verspüren Sie aktuell einen ähnlichen Geist?
Das waren andere Zeiten. Unser Aufstieg 1979 war ein positiver Betriebsunfall. Wir hatten nie mit der Bundesliga geplant. Und plötzlich waren wir drin. Der UEFA-Cup ist mir besonders wertvoll in Erinnerung, weil wir eine Menge Spieler aus der eigenen Jugend im Team hatten. Und 1993 in Berlin konnten wir eigentlich nur verlieren gegen die "kleine Hertha" (Leverkusen traf im Finale auf die Amateure von Hertha BSC und nicht auf das Profiteam; Anm. d. Red.), das war uns vorher bewusst. Deshalb war die Freude umso größer und wir feierten bis in den Morgen. Mich freute es vor allen Dingen für unsere "Ossis" Ulf Kirsten, Heiko Scholz und Andreas Thom, die den Sieg nochmal intensiver genießen konnten als ihre Kollegen.
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