• Seit dem Angriff auf die Ukraine kappen immer mehr Unternehmen ihre wirtschaftlichen Verbindungen zu Russland.
  • Auch deutsche Supermärkte werfen Produkte russischer Herkunft aus ihren Regalen.
  • Ob das überhaupt sinnvoll ist und was jeder Einzelne jetzt tun kann.

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Es dauerte nur wenige Tage, dann hatte der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine die Lebensmittelhändler in Deutschland erreicht: Supermärkte und Discounter wie Aldi, Edeka, Rewe oder Netto verkaufen seitdem keine Produkte aus russischer Herstellung mehr. Aldi Süd hat nach eigenen Angaben über einen deutschen Importeur zumindest einen Food-Artikel russischer Herkunft bezogen. Wodka. Nun ist er auf unbestimmte Zeit nicht mehr im Sortiment verfügbar. "Damit setzen wir als Lebensmitteleinzelhändler ein Zeichen in der aktuellen Situation", teilt das Handelsunternehmen mit.

Einen ähnlichen Schritt geht Edeka: "Wir haben beschlossen, alle Produkte, die in Russland produziert werden, nicht mehr zu bestellen. Dafür bieten wir alternative Produkte aus internationaler Produktion an. Darüber hinaus prüfen wir, ob wir Artikel aus Weißrussland führen und behalten uns auch hier entsprechende Schritte vor", erklärt eine Unternehmenssprecherin.

Die Wirtschaft trägt Mitverantwortung

So sympathisch das Vorgehen der Lebensmittelhändler auf den ersten Blick anmuten mag – ist es auch sinnvoll? Der Theologe und Volkswirt Joachim Fetzer hat Zweifel: "Um festzustellen, ob ein freiwilliger Boykott bestimmter Waren die Richtigen trifft, müsste man die Lieferketten genau kennen", sagt der Wirtschaftsethiker. Dass der Verkaufsstopp russischer Lebensmittel direkt Wladimir Putin und sein Umfeld trifft, ist fraglich.

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Natürlich hat die Wirtschaft auch in Friedenszeiten eine Mitverantwortung dafür, dass etwa Korruption und Geldwäsche bekämpft und faire Arbeitsbedingungen in der Lieferkette erreicht werden. "Aber lässt sich daraus ableiten, dass die Wirtschaft auch eine Mitverantwortung trägt, wenn ein Autokrat einen Angriffskrieg führt?", gibt Fetzer zu bedenken.

Bei der Auslistung bestimmter Produkte handele es sich um ein "Low Cost Engagement", also ein Einsatz, der die Unternehmen günstig zu stehen kommt. Das könne sich im weiteren Kriegsverlauf ändern. Hohe Kosten und große Verwerfungen zeichnen sich zum Beispiel bei der Energieversorgung jetzt schon ab. "Dies solidarisch mitzutragen, ist wichtiger als schnelle Symbolaktionen", sagt Wirtschaftsethiker Fetzer.

Auch Menschen in Unternehmen sind geschockt

Für die dahinterstehende Motivation bei den Lebensmittelketten hat der Theologe und Volkswirt dennoch Verständnis: "Wir haben einen emotionalen Schock erlitten", sagt Fetzer. "Viele Jahrzehnte haben wir von einer globalen, miteinander verflochtenen, Handel treibenden Welt im Frieden geträumt. Aus diesem Traum aufgeweckt zu werden, ist nicht schön." Jetzt wollen die Menschen etwas tun: Auf die Straße gehen, Blau-Gelb tragen, Mahnwachen abhalten, Friedensgebete sprechen.

"Kein Friedensgebet in Deutschland wird Putin davon abhalten, noch mehr Panzer in die Ukraine zu schicken." Dennoch seien diese Handlungen als Ausdruck der eigenen Empfindungen wichtig. Nicht viel anders ergehe es den Menschen, die im Lebensmittelhandel arbeiten. Von daher könne man den Boykott als Gefühlsäußerung während der Schockphase gut verstehen und so sei auch der Wunsch der Unternehmen, ein Zeichen zu setzen nachvollziehbar.

Vorsicht Sippenhaft

Zumindest manche Skeptiker fragen sich allerdings, ob der freiwillige Boykott der Lebensmittelgeschäfte nicht auch antirussische Ressentiments befeuern könnte. Immer häufiger ist schließlich von pauschalen Anfeindungen Russen gegenüber zu hören. Der unmittelbare Auslöser solcher Attacken lässt sich nicht immer eindeutig verorten. Der Wirtschaftsethiker will hier keinen direkten Zusammenhang herstellen.

Allerdings: "Der Handel war immer auch eine zivilisierende, befriedende Kraft, die Persönlichkeitsmerkmale ausblendet. Wenn man mit jemandem Geschäfte macht, ist es zunächst egal, ob einem dessen Gesicht gefällt oder seine Hautfarbe", erklärt Joachim Fetzer. Wichtig sei nur, dass jemand anständig bleibt und seine Rechnungen begleicht.

Der Versuch des Handels, ein demonstratives Zeichen zu setzen und dabei auf der richtigen Seite zu stehen, könnte demnach auch dazu führen, dass Offenheit und Toleranz verlorengehen. Denn wo sich Menschen zu einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten zusammenschließen, entsteht schnell ein geschlossenes Weltbild und Lagerdenken. "Dabei ist die größte Stärke des Menschen nicht sein Herdentrieb, sondern ein Individuum zu sein und andere als Individuen anzuerkennen."

Wie soll sich der Kunde entscheiden?

Doch was bedeutet der freiwillige Boykott vieler Händler für den Verbraucher? Soll er dem Verzicht folgen oder einfach den Supermarkt wechseln, wenn er einen gewünschten Artikel nicht vorfindet? Der Wirtschaftsethiker gibt einen Denkanstoß: "Wenn Sie sich schlecht dabei fühlen würden: Verzichten Sie auf russische Waren! Wenn Sie für sich keinen Zusammenhang sehen: Kaufen Sie russischen Wodka! Aber bitte üben wir Verständnis und Toleranz mit denen, die sich genau anders entscheiden als wir selbst. Diese Toleranz ist es, die unsere Gesellschaft ausmacht und die wir noch brauchen werden."

Über den Experten:
Prof. Dr. Joachim Fetzer studierte evangelische Theologie in München und Heidelberg und im Anschluss Volkswirtschaftslehre in Heidelberg, Kassel und Göttingen. Seit 2011 ist er Honorarprofessor der Hochschule für angewandte Wissenschaften, FH Würzburg-Schweinfurt und gehört dem Vorstand des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik an.

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