Die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland steigt. Der Dachverband der Wohnungslosenhilfe kritisiert die Themensetzung im Wahlkampf und mahnt eine schnelle Regierungsbildung an.
Matratzen liegen auf dem kalten Boden unter der S-Bahnbrücke. Eine Frau im Schlafsack sitzt auf ihrer Matte. Ein Stückchen weiter sitzen zwei Männer, dick eingepackt und rauchen. Autos fahren auf vier Spuren vorbei. Es ist kalt und zugig, Tag und Nacht brennen Lampen.
Normalerweise sind hier mehr Menschen als die drei an diesem Freitagvormittag. Die selbst errichteten Lager weisen daraufhin. Viele haben sich Höhlen gebaut – aus alten Teppichen, Kleidung und Dingen, die Menschen sonst so weggeben haben – verteilt auf Einkaufswägen oder Wäscheständern.
Hauptsache irgendwie den kalten Wind im winterlichen Berlin abhalten. Ein Obdachlosen-Camp mitten in Charlottenburg, wie es sie so viele in der Hauptstadt gibt. Ein Ort, an dem Menschen ihr Lager aufschlagen, weil sie kein Zuhause haben.
Gründe für Wohnungslosigkeit sind vielfältig
Die Anzahl derer, die keine Wohnung haben, ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Waren es 2023 laut Statistischem Bundesamt noch 372.000 Menschen, bewohnten 2024 439.500 Menschen keine eigene Wohnung.
Die Statistik erfasst nur Menschen, die in Sammelunterkünften, überlassenem Wohnraum oder Obdachlosenunterkünften untergebracht wurden. Das Bundesamt geht davon aus, dass die steigende Anzahl der erfassten Fälle auch mit der Verbesserung der Datenmenge zusammenhängt.
Wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) auf Anfrage unserer Redaktion erklärt, sind Miet- und Energieschulden der häufigste Grund für den Verlust der Wohnung – gefolgt von Konflikten im Wohnumfeld und Trennungen. Die Arbeitsgemeinschaft geht davon aus, dass das Thema Gewalt bei Frauen eine größere Rolle spielen dürfte als offiziell angegeben. Denn: Viele Betroffene von häuslicher Gewalt sprechen nicht offen über ihre Erlebnisse.
Die BAG W ist der Dachverband der Einrichtungen und Dienste für wohnungslose Menschen. Eine Interessensvertretung also, die versucht für obdach- und wohnungslose Menschen eine Stimme zu geben.
Eines der zentralen Anliegen ist laut der Arbeitsgemeinschaft die Prävention, damit Menschen eben gar nicht erst ihre Wohnung verlieren. Aber auch die Verbesserung der Situation von Betroffenen, erklärt die BAG W auf Anfrage. Als Beispiele werden "niedrigschwellige Gesundheitsversorgung, Ausbau von Frauenhäusern und geschlechtsspezifischen Einrichtungen und Mindeststandards für Notunterkünfte" genannt.
Zwangsräumungen als Folge von Mietschulden
Nach wie vor komme es vor, dass Wohnungen zwangsgeräumt und Menschen deshalb wohnungslos würden. Und die Anzahl der von Zwangsräumungen Betroffenen steigt. Wie die Beantwortung einer kleinen Anfrage der Linken im Bundestag ergab, gab es 2023 mehr als 30.200 Zwangsräumungen von Wohnungen und anderen Räumen. Im Vergleich zu 2022 ein Plus von mehr als 1.000, so ein Bericht des ZDF. Der häufigste Grund seien Mietschulden.
Von der BAG W heißt es dazu: "Eine dringend benötigte Verbesserung wäre die Möglichkeit, eine ordentliche Kündigung aufgrund von Zahlungsverzug durch die Begleichung der Mietrückstände abzuwenden." Aktuell sei es so, dass zwar eine fristlose Kündigung durch die Nachzahlung rückgängig gemacht werden könne – doch die ordentliche Kündigung unter Einhaltung der Kündigungsfrist bleibe bestehen. "Dadurch droht der Verlust der Wohnung oft nur wenige Monate später – trotz vollständiger Begleichung der Mietschulden", kritisiert der Verband.
Aus Sicht des Verbandes müssten Zwangsräumungen von der Bundesregierung ausgeschlossen werden, wenn diese zur Wohnungslosigkeit führen würden. Außerdem müsse eine Schonfristzahlung auch für die ordentliche Kündigung festgesetzt werden.
Wohnungslosigkeit: Immer mehr junge Frauen betroffen
Eine Entwicklung, auf die die BAG W aufmerksam macht: "Insbesondere bei jungen Menschen sind zunehmend Frauen von Wohnungslosigkeit betroffen." Das gehe aus der Auswertung der Dokumentationssysteme des Dachverbandes zur Lebenslage wohnungsloser Menschen hervor. Generell sind aber laut der Erhebung nach wie vor mehr Männer als Frauen von Wohnungslosigkeit betroffen.
Aber Frauen sind häufig jünger. 25,3 Prozent der akut wohnungslosen Frauen seien unter 25 Jahren, heißt es von Seiten des Dachverbands. Zum Vergleich: bei den akut wohnungslosen Männern seien 16,5 Prozent unter 25 Jahren.
Insgesamt seien von Wohnungslosigkeit betroffene Frauen jünger, als männliche Klienten der Wohnungslosenhilfe. Und: Junge Menschen seien stark repräsentiert, wenn es darum gehe, wer in den Einrichtungen Hilfe suche.
Wohnungslosenhilfe fordert von neuer Regierung schnelles Handeln
Von einer neuen Regierung fordert der Dachverband der Wohnungslosenhilfe eine Verständigung auf das Ziel, bis 2030 Wohnungslosigkeit überwinden zu wollen. Dabei handelt es sich um die Zielvorgabe der Europäischen Union, die bereits 2020 beschlossen wurde.
Damals hatte das Parlament auf die "prekäre Lebenssituation von über 700.000 Personen" hingewiesen, die in Europa obdachlos waren. Ein Anstieg von 70 Prozent innerhalb eines Jahrzehnts, heißt es in einer Mitteilung. Laut dem Bauministerium waren im Jahr 2023 "mindestens 895.000 Menschen in Europa ohne Wohnung".
Das Ministerium beruft sich bei dieser Bewertung auf Erhebungen des europäischen Dachverbands der Wohnungslosenhilfe und der Abbé-Pierre-Stiftung.
Aus Sicht der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe sollte der Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit "schnellstmöglich" umgesetzt werden. Dieser Plan erkennt die Überwindung der Wohnungslosigkeit als Gemeinschaftsaufgabe an, weil dafür verschiedene Kompetenz- und Rechtsbereiche zusammenarbeiten müssten.
Dachverband der Wohnungslosenhilfe mahnt an, "vulnerable Gruppen" in den Blick zu nehmen
Im Frühling 2024 wurde dieser Plan vom Parlament beschlossen. In 31 Punkten sind dort Maßnahmen aufgelistet, die das Ziel 2030 einzahlen sollen. Etwa mehr bezahlbarer Wohnraum und die Ausweitung des Wohngelds, aber auch eine bessere Akutversorgung und der Aufbau von mehr "Know-how" im Bereich Wohnungslosigkeit.
Notwendig wäre unter andrem eine strikte Umsetzung von besserem Mieterschutz und eine bessere Zusammenarbeit der zuständigen Behörden, teilt die BAG W mit. Aber: "Zurzeit kritisieren wir, dass das Thema Wohnen/Wohnungslosigkeit im Wahlkampf kaum Beachtung gefunden hat." Und das, obwohl es sich dabei um ein soziales Thema handele, das viele Menschen bewege.
Mit Blick auf die Zeit nach der Wahl mahnt der Dachverband schnelle Sondierungen und eine flotte Koalitionsbildung an. Damit eine neue Regierung möglichst schnell ins Handeln kommen kann. "Wir erwarten, dass sie die vulnerablen Gruppen im Blick haben und explizit für ebendiese eintreten."
Verwendete Quellen
- Statement der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe
- Destatis.de: "Ende Januar 2024 rund 439 500 untergebrachte wohnungslose Personen in Deutschland"
- ZDF.de: "Zahl der Zwangsräumungen nimmt zu"
- Webseite des Bauministeriums: "Überwindung der Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030"
- Webseite des Europäischen Parlaments: "EU soll Obdachlosigkeit bis 2030 beseitigen"
- Tagesschau.de: "Regierung will Wohnungslosigkeit beenden"
- Statistikbericht BAG W