Der Wahlkampf hatte aus Sicht von VdK-Präsidentin Verena Bentele die falschen Schwerpunkte. Die Chefin des Sozialverbands fordert von der nächsten Regierung, Alltagsprobleme in den Mittelpunkt zu stellen.
Die Sonne scheint in das Büro von VdK-Präsidentin Verena Bentele. Es ist bitterkalt an diesem Tag in Berlin-Mitte, es liegt Schnee, die Fußwege sind vereist. In wenigen Tagen wird in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt – in dieser Woche findet der heiß diskutierte Winterwahlkampf seinen Abschluss. Ein Wahlkampf, der aus Sicht der Sozialverbandschefin die falsche Schwerpunktsetzung hatte.
Lange ging es vorrangig um das Thema Wirtschaft, die Schuldenbremse. Mit den Anschlägen von Aschaffenburg und München drehte sich die Debatte. Das seither bestimmende Thema: Geflüchtete. Was Bentele hinter all diesen Themen zu kurz kam: Die Probleme, die Menschen tatsächlich in ihrem Alltag haben. Sie hat klare Forderungen an eine neue Regierung und konkrete Vorschläge zu einer anderen Finanzierung des Sozialstaats.
Frau Bentele, wir leben in Krisenzeiten. Sind Menschen mit wenig Geld ausreichend geschützt?
Verena Bentele: Menschen mit wenig Geld haben das große Problem, dass sie an ihrer Situation meist wenig verändern können. Oft arbeiten sie zum Mindestlohn, sind alleinerziehend, pflegen Angehörige oder sind Rentner. Dazu kommen steigende Mieten und Lebensmittelpreise. Die Sozialleistung oder der Mindestlohn, für den die Menschen arbeiten gehen, geben diesen Menschen keinen finanziellen Spielraum. Also nein.
In diesem Wahlkampf ging es viel um "die Fleißigen", "die Mitte", "die Anständigen" – und um Wirtschaft.
Ich frage mich, was mit "anständig" gemeint ist. Für mich sind beispielsweise Menschen anständig, die in Deutschland ihre Steuern zahlen. Für mich sind Menschen anständig, die durch ihre Beiträge in die Sozialversicherung für andere mit sorgen. Die, die in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen und so auch für mitversicherte Kinder oder Partner sorgen. Dieser Wahlkampf hat keine besonders gute Schwerpunktsetzung.
"Ich hätte mir für den Wahlkampf gewünscht, dass er sich mehr mit konkreten Problemen befasst."
Wie meinen Sie das?
Ich hätte mir für den Wahlkampf gewünscht, dass er sich mehr mit konkreten Problemen befasst – und diese Erwartung habe ich auch an künftige Koalitionsverhandlungen. Für viele ist es ein Problem, dass sie sehr lange auf einen Facharzttermin warten müssen. Oder dass es auf dem Land keinen ausreichenden öffentlichen Personennahverkehr gibt – und in der Stadt keine bezahlbaren Mieten. Dass die Rente nicht reicht fürs Leben, oder Menschen wegen einer Behinderung nicht teilhaben können.
Mit Blick auf die Umfragen zu den wichtigsten Themen der Republik dominieren aber vor allem Migration und Wirtschaft.
Die politische Diskussion hat sich in den vergangenen Wochen extrem auf diese beiden Themen fokussiert. In der Debatte wird nie auf den Tisch gelegt, wie Arbeitsmarkt und Migration beispielsweise zusammenhängen. Es geht selten darum, dass viele Menschen, die aus anderen Ländern kommen, in der Landwirtschaft arbeiten und unser Essen produzieren – oder in der Pflege und sich dort um unsere Angehörigen kümmern. Die Diskussion ist sehr undifferenziert und das schürt am Ende nur Ressentiments.
Sie haben eben die Sozialversicherung angesprochen, bei der Einzahlende auch weitere Menschen mitversichern. Auch diese Beiträge machen das Leben der Menschen teurer.
Diesen Beiträgen stehen ja auch wichtige gesamtgesellschaftliche Leistungen gegenüber wie der Krankenhausaufenthalt oder eben Ansprüche auf spätere Renten oder eine Rehamaßnahme. Deswegen ist es wichtig, dass nicht nur die, die in dieses System einzahlen, die Kosten tragen für das, was allen zugutekommt.
Wie meinen Sie das?
Ein Beispiel ist die Finanzierung der Krankenhausreform: Von den geplanten 50 Milliarden Euro soll die Hälfte von den gesetzlich Versicherten gestemmt werden. Die andere Hälfte sollen die Länder zahlen. Es kann nicht sein, dass Versichertengelder dafür genutzt werden. Die strukturellen Veränderungen durch die Reform kommen allen zugute – nicht nur gesetzlich Krankenversicherten, sondern auch Privatversicherten und denen, die in Versorgungswerken abgesichert sind. Hier kann also nicht die Sozialversicherung einseitig belastet werden. Das Gleiche gilt für die Rente.
Ach ja?
Auch hier werden die sogenannte Mütterrente oder die Anrechnung von Ausbildungszeiten und viele andere sinnvolle, aber eben versicherungsfremde Leistungen von den Beitragszahlern mitfinanziert. Dabei müsste eine solche Leistung steuerfinanziert sein.
"Es ist keine Leistung, große Aktienpakete zu erben und mit der Dividende den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten."
Der Staat kann sein Geld nur einmal ausgeben. Wenn mehr in die Sozialversicherung fließen soll, muss das irgendwo herkommen.
Deswegen haben wir mit Fiscal Future, eine Nichtregierungsorganisation, die sich mit Finanzpolitik beschäftigt, ein Steuerkonzept erarbeitet und berechnet, wie der Staat deutlich mehr Geld einnehmen könnte. Nämlich durch eine substanzielle Besteuerung großer Vermögen, sehr hoher Erbschaften oder der Gewinne von internationalen Digitalkonzernen. Mit unserer Rechnung, die eher konservativ war, ergäbe sich so ein Plus von 100 Milliarden Euro. Es ist keine Leistung, große Aktienpakete zu erben und mit der Dividende den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten – warum sollte das dann nicht ordentlich besteuert werden?
Kritiker mahnen, dass davon genau die Menschen betroffen wären, die mit ihren Unternehmen für Arbeitsplätze sorgen.
Niemand will Firmenerben so stark besteuern, dass sie danach ihre Firma dichtmachen müssen.
Sondern?
Es gäbe Möglichkeiten der Besteuerung, die nicht Arbeitsplätze gefährden. Kosten haben ja nicht nur Firmenerben, sondern auch die, die ein Unternehmen gründen. Am Ende profitieren auch Firmenerben und alle anderen sehr wohlhabenden Menschen so vom Gemeinwesen wie jene, die kein Kapital haben und brav Steuern zahlen. Wir stehen vor einem immensen Investitionsstau bei unserer Infrastruktur. Wenn ich das Geld nicht von denen nehmen will, die sehr viel davon haben, muss ich Schulden machen oder sparen. Die Rechnung hat irgendwann Grenzen.
Deutschland muss also umverteilen, um sich den Sozialstaat weiter leisten zu können?
Deutschland muss in jedem Fall schauen, wie die Einnahmeseite gestärkt werden kann. Es wird Menschen geben, die unter Umständen in Zukunft mehr Steuern bezahlen – weil sie sich das leisten können.
Viele Menschen reagieren auf die Forderung nach höheren Steuern auf Vermögen und Erbschaften allergisch.
In der sogenannten Leistungsgesellschaft ist das Schauen nach unten zu denen, die angeblich nichts leisten, leider ein größeres Thema als der Blick nach oben. Es wird zu selten gefordert, dass sehr reiche Menschen vielleicht mehr leisten könnten.
Sie meinen die polarisierte Debatte rund um das Thema Bürgergeld.
Es werden bewusst Fronten eröffnet: Auf der einen Seite die Fleißigen, die arbeiten gehen, auf der anderen Seite jene, die Bürgergeld bekommen und angeblich nichts tun. Dabei sind Bürgergeldbezieher eine sehr heterogene Gruppe. Ganz viele Kinder und Jugendliche sind im Bürgergeldbezug – die dürfen in Deutschland gar keinen Vollzeitjob machen. Wir haben Menschen, die in Qualifikations- und Weiterbildungsmaßnahmen sind. Menschen mit Behinderung, die sich ganz oft bewerben, aber einfach keinen Job finden. Es gibt auch Menschen, die aufstocken müssen, weil ihr Lohn nicht zum Leben reicht.
In Argentinien und den USA sehen wir gerade, wie der Staat stark verschlankt wird. Befürchten Sie ähnliche Entwicklungen in Deutschland?
Der Sozialstaat wird gerade stark diskutiert und von dem einen oder anderen auch immer wieder in Frage gestellt. Ich fürchte, dass das so weitergehen wird – dem müssen wir etwas entgegensetzen. Wir müssen für die von uns allen über viele Jahrzehnte erarbeiteten, sozialstaatlichen Errungenschaften eintreten.
Was fordern Sie von einer neuen Regierung?
Dass sie die Menschen und die Bedingungen, unter denen sie leben, in den Blick nimmt. Menschen brauchen eine gute Existenzsicherung, eine gute Chance auf Teilhabe. Pflegende Angehörige und Pflegebedürftige, die zu Hause leben, müssen unterstützt und gestärkt werden. Wesentlich ist aber auch, dass die Bundesregierung dringend Armut bekämpfen muss.
Zur Person
- Verena Bentele wurde 1982 in Lindau am Bodensee geboren. Sie ist ehemalige Biathletin und Skilangläuferin. Zwischen 1995 und 2011 wurde Bentele zwölfmal Paralympics-Siegerin und viermal Weltmeisterin. Seit 2018 leitet die Blinde als Präsidentin den Sozialverband VdK, zuvor war sie vier Jahre lang Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Bentele ist Mitglied der SPD.