• Im nächsten Deutschen Bundestag könnte eine Reihe ungewöhnlicher Personalien vertreten sein.
  • Wir stellen fünf von ihnen vor.

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Noreen Thiel

Als jüngste Direktkandidatin ist die 18-jährige Noreen Thiel nicht nur aufgrund ihres Alters ein Unikum in diesem Wahlkampf, sondern auch wegen ihrer politischen Agenda. Für ihr politisches Kernanliegen – Mental Health – kämpft Thiel mit Mitteln, von denen Politiker sonst gerne Abstand halten – Wahlkämpfer sowieso: Sie macht sich angreifbar. In Interviews und in den sozialen Medien berichtet die FDP-Politikerin freimütig, wie sie bereits mit 16 Jahren an Depressionen gelitten habe – so stark, dass sie sich in Behandlung begab.

Aus ihrer eigenen Biografie heraus will sich Thiel deshalb auf Bundesebene für die Unterstützung Betroffener einsetzen und erreichen, dass in der Gesellschaft offener über "Mental Health" gesprochen wird. "Es kann nicht sein, dass man in einem so weit entwickelten Land diffamiert, abgestempelt und abgetan wird, nur weil man psychisch krank ist", so Thiel im Interview mit dem Magazin "GQ". Für ihren politischen Einsatz erntete Thiel viel Zuspruch – aber auch Anfeindungen in den sozialen Netzwerken.

Die mentale Gesundheit hat auch durch die psychosozialen Folgen der Corona-Pandemie eine neue Dringlichkeit bekommen. Eine Bundestagsabgeordnete, die die psychische Gesundheit der Bevölkerung in den Mittelpunkt ihrer Politik rückt, wäre für viele Menschen überfällig. Trotzdem stehen die Chancen statistisch gesehen schlecht, dass Thiel sich bereits in der kommenden Legislaturperiode für ihr Thema einsetzen kann.

Die Kandidatin hat es nicht auf einen sicheren Listenplatz ihrer Partei geschafft und der letzte FDP-Kandidat in ihrem Wahlkreis – Berlin-Lichtenberg – landete 2017 mit 5,3 Prozent an sechster Stelle. Fest steht aber bereits jetzt, dass es der Nachwuchspolitikerin, die neben dem Studium für einen FDP-Abgeordneten arbeitet, gelungen ist, Aufmerksamkeit für ihr Thema zu generieren. Für einen zweiten Anlauf in vier Jahren ist das keine schlechte Ausgangsposition.

Johannes Kretschmann

Als Sohn des amtierenden Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg ist dem Direktkandidaten des Wahlkreises 295 – Zollernalb-Sigmaringen – eine Grundaufmerksamkeit gewiss. Egal, welchen Mittelständler Johannes Kretschmann, Sohn des Grünen-Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, zwischen Donautal und Schwäbischer Alb besucht – sein Vater war mit großer Wahrscheinlichkeit schon da. Das kann Bürde sein, oder Privileg. Sollte Kretschmann es allerdings schaffen, seinen Wahlkreis direkt zu gewinnen, wäre es eine kleine Sensation.

Seit 1949 stellt hier, tief im Süden, die CDU den Ministerpräsidenten. Zu übersehen und zu überhören ist der junge Kretschmann kaum. Als erklärter Dialektfan legt er Wert auf "so viel Schwäbisch wie möglich und so viel Standarddeutsch wie nötig", wie er einmal in einem Interview erklärte. In Berlin will er es weiter so halten. Und mit den langen Haaren, der Hornbrille und der Baskenmütze pflegt der junge Kretschmann ein unangepasstes Auftreten, das ihn von den meisten Menschen im politischen Berlin unterscheidet.

Politisch ließ es der Filius etwas ruhiger angehen als sein Vater, der die baden-württembergischen Grünen dereinst im Alter von 22 Jahren mitgegründet hatte. Johannes Kretschmann studierte zwölf Jahre in Berlin – Religionswissenschaften, Rumänistik und Linguistik – und verdiente sein Geld unter anderem als Sargträger, in einer Mosterei und als Online-Redakteur.

Bis heute gibt er auf der Homepage des Sigmaringer Kreistags, wo er für die Grünen-Fraktion spricht, "Freischaffender Autor" als Beruf an. Politisch möchte sich der erklärte Baerbock-Fan für den Schutz von Natur und Klima, für den Erhalt des Lebensraumes des Schwarzen Apollos, eines seltenen Tagfalters, und für eine versöhnlichere Europapolitik einsetzen.

Florian Post

Wenn die SPD-Parteispitze ihren dramatischen Umfragewerten in den vergangenen Monaten überhaupt etwas abgewinnen konnte, dann vielleicht die Tatsache, dass damit die Karriere des SPD-Abgeordneten Florian Post beendet schien. Kein anderes Mitglied der Bundestagsfraktion hatte die Parteifunktionäre in den vergangenen Jahren so gepiesackt, wie der Bayer, der aktuell im Wahlkreis München-Nord kandidiert.

Mit gezielten Angriffen auf Olaf Scholz und die Ex-Vorsitzende Andrea Nahles sowie einem kompromisslosen Einsatz gegen Waffenexporte, machte sich Post einen Namen als Querulant, dem oft vorgeworfen wurde, sich auf Kosten der Partei zu profilieren. Ins endgültige Aus schoss sich Post, als er die angeschlagene Andrea Nahles nach der Pleite bei der Europawahl 2019 öffentlich anging – und damit aussprach, was sich viele nur hinter der vorgehaltenen Hand zu sagen trauten.

Die Partei revanchierte sich für seine Illoyalität gleich doppelt: Zum einen wurde der enge Vertrauter von Ex-Außenminister Sigmar Gabriel aus dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie abberufen, was als drakonischste Sanktionsmöglichkeit gegen einen Abgeordneten gilt, der nur seinem eigenen Gewissen verpflichtet ist. Und bei der diesjährigen Listenaufstellung zur Bundestagswahl wurde Post eine Gegenkandidatin vorgesetzt. Er verlor, womit er seinen Platz auf der Landesliste einbüßte, über die er 2013 und 2017 in den Bundestag eingezogen war. Seine politische Karriere schien vorbei – bis jetzt.

Mit den plötzlich steigenden Umfragewerten könnte Post nun ein unverhofftes Comeback gelingen, indem er als Direktkandidat in den Bundestag einzieht. Bereits 2017 lag Post nur sechs Punkte hinter seinem CSU-Konkurrenten, laut aktueller Prognosen könnte es diesmal sogar für den ersten Platz reichen. Für die SPD-Funktionäre wäre das zwar eine bittere Pille – angesichts der aufhellenden Gesamtlage für die Partei aber wohl eine zu verkraftende.

Shoan Vaisi

Vor der Coronakrise hat die Deutschen kaum ein anderes Thema so bewegt, wie die Flüchtlingskrise. Dennoch ist bis heute kein Abgeordneter im Parlament vertreten, der seit 2015 nach Deutschland flüchtete. Lange hatte es so ausgesehen, dass der Grünen-Politiker Tareq Alaows der erste Bundestagsabgeordnete sein würde, der 2015 aus Syrien nach Deutschland kam. Seine Kandidatur zog aber so viel Hass auf sich, dass er im März seinen Rückzug bekannt gab. Für viele Menschen war das ein Schock.

Auch für den Linken-Politiker Shoan Vaisi, der vor zehn Jahren aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet war. Zwei Tage nach Alaows Rückzug gab der 31-Jährige seine Kandidatur bekannt. Sein Motto: Jetzt erst recht. Auf Twitter schrieb er zu seiner Kandidatur: "Die Drohungen gegen Alaows haben gezeigt, wie erschreckend die Vorstellung, dass ein Geflüchteter im deutschen Bundestag sitzt, für die Rassisten in Deutschland ist. Ich möchte ihren Alptraum wahr werden lassen."

Vaisi weiß, was es bedeutet, fast alles zu verlieren. Im Iran hatte der Profi-Ringer es bis ins iranische Nationalteam geschafft, als Mitglied einer linken Organisation hatte er Demonstrationen und Lesungen verbotener Bücher organisiert und sich für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern eingesetzt. Sein Einsatz wurde ihm zum Verhängnis: Ihm drohten Folter und Haft.

Heute studiert Vaisi Soziale Arbeit, arbeitet als Sozialbetreuer, Übersetzer und Dolmetscher für kurdische und persische Sprachen. Um Geflüchteten im Parlament eine Stimme geben zu können, müsste seine Partei jedoch 7,7 bis 8,3 Prozent der Stimmen holen. Ein Selbstläufer wird das nicht.

Jessica Heller

Die Coronakrise legte in den vergangenen Monaten systemische Probleme im deutschen Gesundheitswesen offen. Von unterbezahlten Pflegekräften war die Rede, von niedrigen Personalschlüsseln, von Erschöpfung und Überlastung auf den Intensivstationen. Nicht wenige Pflegekräfte fürchten, dass mit dem Ende der Pandemie auch das Gesundheitswesen aus dem Fokus geraten könnte.

Für die Misere wurde keine Partei so stark kritisiert wie die CDU. Daher überrascht es, dass eine der wenigen Pflegekräfte im Deutschen Bundestag demnächst jener Partei entstammen könnte, die seit zwei Legislaturperioden den Gesundheitsminister stellt. Die Intensivpflegerin Jessica Heller will als Direktkandidatin für den Wahlkreis Leipzig-Süd ins Parlament.

Interessant ist die Kandidatur der 31-Jährigen, die als Intensivpflegerin am Universitätsklinikum Leipzig arbeitet, gerade deshalb, weil Heller nicht nur das deutsche Gesundheitssystem von innen kennt, sondern bereits Erfahrung im Ausland gesammelt hat. Ein Jahr lang arbeitete sie auf der kardiologischen Station am Royal Bournemouth Hospital im südenglischen Dorset, womit sie ein gutes Gespür dafür mitbringen dürfte, mit welchen Herausforderungen die Pflege im Ausland zu kämpfen hat.

Auf ihrer Kandidaten-Seite berichtet sie von zwei konkreten Beobachtungen, die das britische und das deutsche System positiv und negativ voneinander unterscheiden: Während Großbritannien manche Patienten als "austherapiert" nach Hause geschickt würden, werde ihnen in Deutschland trotz desselben Krankheitsbildes noch mit Hochleistungsmedizin weitergeholfen. Andererseits seien die Pflege- und Therapieberufe in England denen in Deutschland "um Jahrzehnte, wenn nicht ein ganzes Jahrhundert" voraus.

Dies zu ändern, hat Heller als eines ihrer Kernthemen identifiziert, neben der Digitalisierung. Dass die Vorständin der Leipziger Frauen-Union überhaupt als Direktkandidatin aufgestellt wurde, ist übrigens eine kleine politische Sensation. Heller hatte sich eine Kampfkandidatur gegen den Leipziger CDU-Chef zugetraut – und ihn mit 65 zu 55 Stimmen besiegt.

Verwendete Quellen:

  • Internetseiten der Kandidaten

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz schlägt sich beim letzten TV-Triell am besten

Beim dritten und letzten TV-Triell hat sich SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz am besten geschlagen. Laut einer Blitz-Umfrage sahen 42 Prozent Scholz ganz vorne, 27 Prozent den Unionskandidaten Laschet und 25 Prozent Annalena Baerbock von den Grünen. (Teaserbild: picture alliance/dpa/Kay Nietfeld)
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