- Nur eine Partei schenkt der AfD Stimmen, nur einer gelingt es, Nichtwähler zu mobilisieren. Die Wählerwanderung bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen bietet interessante Einblicke.
- Wir erklären, wieso die CDU trotz gleichbleibender Stimmen Zuwächse verzeichnet, bei wem die meisten Anhänger wohl zuhause blieben und wie sicher all diese Zahlen sind.
Der Tag des Wanderns (14. Mai) liegt gerade erst zurück, da schaut das politische Berlin schon wieder auf Wanderungen. Allerdings nicht durch Wälder und Weinberge, sondern entlang der Parteilinien im parlamentarischen System. Anlass gibt die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, aus der am Sonntag (15. Mai) die CDU als Siegerin hervorgegangen ist.
Mit 35,7 Prozent der Stimmen lag Kandidat Hendrik Wüst deutlich vor der SPD (26,7 Prozent) und den Grünen (18,2 Prozent). Eine Fortsetzung der schwarz-gelben Koalition in Düsseldorf ist aufgrund des schlechten FDP-Ergebnisses (5,9 Prozent) nicht mehr möglich.
Wohin die meisten Stimmen wanderten
Wer nur auf die Stimmanteile schaut, der sieht: Im Vergleich zur Landtagswahl vor fünf Jahren hat die CDU 2,8 Prozentpunkte dazugewonnen, die Grünen haben ihre Stimmanteile mehr als verdoppelt. Als hauptsächliche Verlierer stehen nur SPD (minus 4,5 Prozent) und FDP (minus 6,7 Prozent) da.
Ein Blick auf die Wahlbeteiligung aber zeigt: Eigentlich haben alle Parteien verloren. 1,38 Millionen Menschen, die 2017 noch ihre Stimme abgaben, blieben diesmal zuhause. Damit lag die Wahlbeteiligung am Sonntag (15. Mai) auf einem historischen Tiefstand von 55,5 Prozent. Den größten Stimmenzuwachs verzeichnete damit das Lager der Nichtwähler.
Wieso die CDU gewinnen konnte
Hart getroffen hat das die SPD. Laut Schätzungen von "Infratest dimap" blieben diesmal 300.000 Wählerinnen und Wähler, die 2017 ihr Kreuz bei den Sozialdemokraten machten, der Wahl fern. Stark war der Effekt vor allem in den klassischen SPD-Hochburgen im Ruhrgebiet. In Essen, Gelsenkirchen, Duisburg und Hagen nutzte nicht mal jeder Zweite sein Stimmrecht.
Aber auch bei der CDU sind ehemalige Wähler zu den Nichtwählern abgewandert – schätzungsweise etwa 160.000. Weil die CDU aber insgesamt ihre Stimmenanzahl etwa gleichbleibend halten konnte, gelang ihr der Wahlsieg. Die CDU kann nämlich auch Zugewinne verzeichnen, und zwar besonders massiv von der FDP (250.000). Taktisches Wahlverhalten, um einen Sieg der SPD zu verhindern, könnte die Liberalen dazu bewegt haben, bei der CDU ihr Kreuz zu machen.
Zwei Fakten überraschen: Grüne mobilisieren Nichtwähler, FDP-Stimmen gehen an AfD
140.000 Stimmen verloren die Christdemokraten allerdings an die Grünen – die einzige Partei, die ehemalige Nichtwähler mobilisieren konnte. Etwa 30.000 Menschen, die 2017 ihre Stimme nicht abgaben, konnten die Grünen zurückholen. Stimmzuwächse verzeichnen sie außerdem von der gesamten politischen Konkurrenz: 260.000 von den Sozialdemokraten, 100.000 Stimmen von der FDP.
Eine Koalition kommt an den Grünen somit nicht mehr vorbei: Möglich sind ein schwarz-grünes Bündnis, ebenso eine Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP. Eine FDP in der Regierung würde allerdings allen Signalen widersprechen, die die Wähler gesendet haben: Denn die Liberalen verloren in alle Richtungen.
Neben den Stimmen für CDU und Grüne wanderten 60.000 zur SPD, 10.000 zur AfD und 120.000 ins Lager der Nichtwähler. Die FDP ist die einzige Partei, die der AfD Stimmzuwächse schenkte – das gelang den Rechtspopulisten bei keiner anderen Partei. Sie selbst verloren 20.000 Wählerinnen und Wähler an die CDU, 10.000 Stimmen wanderten zu den Grünen.
Das schlechte Abschneiden der FDP erklären Wahlbeobachter mit Unmut über das FDP-geführte Schulministerium in der Coronakrise, unbekanntem Personal sowie mangelndem Rückenwind aus Berlin.
Mit Unsicherheit behaftet
Dort werden sich die politischen Beobachter die Wahlwanderungen wohl noch genauer anschauen. Eins sollten sie dabei aber auch im Hinterkopf behalten: Die Werte zur Wählerwanderung sind Schätzungen, die mit Vorsicht zu genießen sind. Sie beruhen auf Berechnungen auf Grundlage des vorläufigen Endergebnisses und von Befragungen durch die Meinungsforschungsinstitute.
Der Haken allerdings: Die meisten Befragten werden die Frage, wo sie das letzte Mal ihr Kreuz gemacht haben, zwar nach bestem Wissen und Gewissen beantworten – die Erinnerung kann aber trügen.
Besonders als Wechselwähler kann man zwischen Europa-, Bundes- und Landtagswahl durcheinanderkommen. Das mögliche Splitting zwischen Erst- und Zweitstimmen macht es zusätzlich komplizierter.
Wieder andere wollen vielleicht nicht eingestehen, welcher Partei sie bei der letzten Wahl ihre Stimme gegeben haben. In der Masse betrachtet werden die Zahlen zur Wählerwanderung damit äußerst unsicher. Groß sind die Unterscheide deshalb teilweise zwischen einzelnen Meinungsforschungsinstituten. Die Daten dienen daher eher als richtungsweisender Pfeil – wie bei einer echten Wanderung eben auch.
Verwendete Quellen:
- Tagesschau.de: Wie die Wähler wanderten. 16.05.2022
- Zeit.de: FDP-Wähler wechseln zur CDU, SPD-Anhänger bleiben zu Hause. 16.05.2022
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