Binnen kurzer Zeit hat sich die politische Lage in Bayern dramatisch zugespitzt. Und jeden Tag gibt es in der Flugblatt-Affäre neue Fragen und Details.

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Hubert Aiwanger spricht nur 1 Minute und 45 Sekunden. Aber es sind neue Töne, die der Freie-Wähler-Chef im Strudel der Flugblatt-Affäre am Donnerstagnachmittag plötzlich anschlägt: In einem kurzfristig anberaumten Pressestatement entschuldigt er sich erstmals öffentlich, "zuvorderst" bei allen Opfern des NS-Regimes und deren Hinterbliebenen. Ungewohnt: Aiwanger liest komplett vom Blatt ab. Von einem möglichen Rücktritt ist keine Rede - im Gegenteil: In dem knappen Statement geht Aiwanger gleich wieder zum Angriff über.

Klar ist: Irgendwann in den kommenden Tagen, also gut einen Monat vor der bayerischen Landtagswahl, wird Ministerpräsident Markus Söder (CSU) eine politisch heikle Entscheidung treffen müssen: Entlässt er seinen Vize - oder nicht? Viele große und kleine Mosaiksteine aus Vorwürfen und Gegenvorwürfen, aus Verteidigungsversuchen, aus immer neuen Vorhaltungen und vielen Spekulationen setzen sich ganz langsam zu einem Bild zusammen. Und zu diesem Bild gehören nun auch Aiwangers knapp zwei Minuten vom Donnerstag. Eine Einordnung und ein Ausblick:

Die ursprünglichen Vorwürfe: Die "Süddeutsche Zeitung" berichtete in ihrer Wochenendausgabe über den Verdacht, dass der Freie-Wähler-Chef zu Schulzeiten in den 1980er Jahren ein antisemitisches Flugblatt geschrieben haben soll. Das wies der heute 52-Jährige schriftlich zurück. Gleichzeitig räumte er aber ein, es seien "ein oder wenige Exemplare" in seiner Schultasche gefunden worden. Kurz darauf gestand Aiwangers älterer Bruder ein, das Pamphlet geschrieben zu haben. Offen blieb bisher, ob Aiwanger einzelne Exemplare weitergab, das sei ihm "heute nicht mehr erinnerlich". Sein Bruder meinte, vielleicht habe Hubert die Flugblätter eingesammelt, "um zu deeskalieren".

Zusätzliche Vorwürfe: Ein ehemaliger Mitschüler Aiwangers sagte der ARD offen und mit Namen, Aiwanger habe als Schüler beim Betreten des schon besetzten Klassenzimmers früher ab und zu "einen Hitlergruß gezeigt". Zudem habe Aiwanger "sehr oft diese Hitler-Ansprachen nachgemacht in diesem Hitler-Slang". Auch judenfeindliche Witze seien "definitiv gefallen". Im Online-Netzwerk X (früher Twitter) wehrte sich Aiwanger gegen den Vorwurf einer nicht namentlich genannten Ex-Mitschülerin in der "Süddeutschen Zeitung": "Es wird immer absurder. Eine andere Person behauptet, ich hätte Mein Kampf in der Schultasche gehabt. Wer lässt sich solchen Unsinn einfallen!?"

Aiwangers Verteidigung und Entschuldigung: In seiner schriftlichen Erklärung nannte er das Flugblatt "ekelhaft und menschenverachtend". Am Mittwoch äußerte er sich ausführlicher, machte aber selbst das Tor auf für neue Spekulationen, weil er sagte: "Auf alle Fälle, ich sag' seit dem Erwachsenenalter, die letzten Jahrzehnte: kein Antisemit, kein Extremist, sondern ein Menschenfreund." Wenige Stunden später schob er eilig nach: "Ich war noch nie Antisemit oder Extremist."

Und am Donnerstag dann die Entschuldigung. "Ich bereue zutiefst, wenn ich durch mein Verhalten in Bezug auf das in Rede stehende Pamphlet oder weitere Vorwürfe gegen mich aus der Jugendzeit Gefühle verletzt habe", sagt er. Er bleibt aber ansonsten bei seinen Darstellungen - insbesondere dass er das Flugblatt nicht verfasst habe. "Ich habe als Jugendlicher auch Fehler gemacht." Aber: "Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Hitlergruß gezeigt zu haben. Ich habe keine Hitlerreden vor dem Spiegel einstudiert." Weitere Vorwürfe könne er aus der Erinnerung weder vollständig dementieren noch bestätigen.

Gegenvorwürfe: Die Freien Wähler kritisieren die aktuellen Vorgänge als "Schmutzkampagne". Aiwanger schrieb auf X/Twitter am Mittwoch: "#Schmutzkampagnen gehen am Ende nach hinten los. #Aiwanger".

Und auch direkt nach seiner Entschuldigung spricht er von einer "politischen Kampagne" gegen ihn und seine Partei: "Ich habe den Eindruck, ich soll politisch und persönlich fertig gemacht werden."

Fragezeichen und Ungewisses: Es gibt auch die Aussage eines anderen ehemaligen Mitschülers Aiwangers. "Focus online" zitiert ihn mit den Worten, ein ehemaliger Lehrer habe ihm gegenüber geäußert, Aiwanger "stürzen" zu wollen. Die Mediengruppe Bayern wiederum berichtet von Aussagen von Freien Wählern vor Ort, der Lehrer habe das Flugblatt "immer wieder angeboten". Einer sagte den Zeitungen der Mediengruppe, der Lehrer habe sich "gebrüstet", dass er Aiwanger schaden könnte.

Tatsächlich gibt es viele Fragezeichen: Seit wann ist das Flugblatt wo bekannt? Was ist dran an einem neuen "Spiegel"-Bericht, wonach Aiwanger sich bereits 2008 beim damaligen CSU-Chef Horst Seehofer über mutmaßliche Recherchen eines CSU-Mitarbeiters zu seiner Schulzeit beschwerte (der CSU-Mann wies dies demnach aber an Eides statt zurück)? Was ist dran an einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung", wonach schon 2008 jemand bei einem Ex-Lehrer vorstellig wurde und fragte, ob von seiner Seite "Gefahr" für Aiwanger drohe?

Wie es weitergeht: Aiwanger hat von Söder 25 Fragen bekommen, die er nun schriftlich und "zeitnah" beantworten soll. Dann will Söder eine abschließende Bewertung vornehmen. Die zentrale Entscheidung, die er dann akut treffen muss: Entlässt er Aiwanger als Minister, ja oder nein? Für eine Entlassung bräuchte er anschließend die Zustimmung des Landtags. Klar ist so oder so: Im Landtag wird es am 7. September - auf Antrag von Grünen, SPD und FDP - eine Sondersitzung geben.

Szenarien und mögliche Folgen: Das ist Söders Dilemma: Entlässt er Aiwanger, ist die Koalition kurz vor der Landtagswahl am Ende. Davon könnten die Freien Wähler, so die Sorge der CSU, am Wahltag massiv profitieren. Hält Söder an ihm fest, könnten er und die CSU aber am Ende in Mithaftung genommen werden. Insgesamt steht Söder derart unter Beobachtung, auch bundesweit, auch vom Zentralrat der Juden und anderen: Vielleicht kann er, um politisch gesichtswahrend aus der Affäre zu kommen, gar nicht mehr anders als Aiwanger zu entlassen? Auch auf die Gefahr hin, am Ende ein paar Prozentpunkte zu verlieren.

Was die Zeit nach der Wahl angeht: Auch wenn Söder grundsätzlich, mangels für die CSU wünschenswerter Alternativen, die Koalition mit den Freien Wählern fortsetzen will - mit Aiwanger als Minister wird dies nicht mehr möglich sein. Sollten die Freien Wähler unverrückbar an Aiwanger als Minister festhalten, müsste sich Söder einen anderen Partner suchen. Die Grünen wären in der CSU kaum vermittelbar, bliebe also rechnerisch, nach vergangenen Umfragen, vielleicht nur die SPD. Allerdings ist der Wahlausgang ja plötzlich wieder sehr ungewiss. (dpa/cgo)

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