• Immer häufiger tauchen deutsche Neonazis in der Schweiz auf – wie zuletzt bei dem größten rechtsextremen Aufmarsch seit Aufhebung der Corona-Regeln.
  • Die rechtsextreme Szene wird immer aktiver, der Nachrichtendienst warnt vor einer Bedrohung der Sicherheitslage.
  • Dass es deutsche Neonazis in die Schweiz verschlägt, ist kein Zufall. Politikwissenschaftler Hajo Funke erklärt, wieso.

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In Deutschland war es zuletzt verhältnismäßig ruhig um die Szene der Rechtsextremen. Zwar befindet sich laut Verfassungsschutzbericht die Zahl gewaltbereiter Nazis weiterhin mit 13.500 auf einem hohen Niveau, 2021 gab es aber weniger rechtsextreme Straftaten – ein Rückgang von fast zehn Prozent.

Im Nachbarland, der Schweiz, beobachtet man eine gegenteilige Entwicklung: Hier ist die Szene wieder deutlich aktiver geworden, besonders den Aufstieg der Neonazigruppe "Junge Tat" beunruhigt die Behörden.

Nachrichtendienst des Bundes warnt vor Wandel der rechtsextremen Szene

Jüngst warnte der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) vor dem Wandel der rechtsextremen Szene. Es werde in sozialen Netzwerken bewusst provozierend kommuniziert, Propagandavideos häuften sich und die Fähigkeiten in den Bereichen Schusswaffen und Kampfsportarten würden zunehmen.

Auffällig: Auch deutsche Rechtsextreme tauchen immer wieder in der Schweiz auf. Zuletzt beispielsweise bei einem rechtsextremen Aufmarsch in einem Zürcher Pfadfinder Heim. Dort hatten sich Neonazis als angebliche Wandergruppe einquartiert, waren dann aber mit rechtsextremen Parolen aufgefallen. Die Polizei löste das Treffen auf, an dem auch mehrere deutsche Nazis beteiligt waren.

Dazu zählte unter anderem die Dortmunder Rechtsrockband "Oidoxie". Ebenso führten Spuren rechtsextremer Netzwerke und Gruppierungen wie "Blood & Honour", "Hammerskin" und "Combat 18" in die Schweiz.

Möglich auch, dass deutsche Rechtsextreme an einer Attacke während der Pride am selben Wochenende in Zürich beteiligt waren. Dabei versuchte eine Gruppe mutmaßlicher Neonazis einen queeren Gottesdienst zu stürmen. Die Vermummten konnten gestoppt werden.

Experte: "Schweiz ist ein beliebter Rückzugsort für deutsche Rechtsextreme"

"Die Schweiz ist ein beliebter Rückzugsort und operative Basis für deutsche Rechtsextreme", sagt auch Politikwissenschaftler Hajo Funke. Es seien vor allem rechtliche Differenzen, die das Land für sie attraktiv machten. Beispielsweise sind rassistische Symbole, wie etwa das Hakenkreuz, in der Schweiz nicht grundsätzlich verboten.

Auch der Hitlergruß ist erlaubt. Die liberale Gesetzgebung wird an weiteren Stellen deutlich: Beispielsweise gibt es in der Schweiz, ebenso wie in Deutschland, keine generelle Pflicht, immer einen Personalausweis oder Pass bei sich zu tragen. "Hinzukommt ein liberaleres Waffengesetz als in Deutschland", sagt Funke.

Die schweizerische Waffengesetzgebung gilt als besonders liberal. Besitz und Erwerb von Waffen und Munition sind grundsätzlich jedem unbescholtenen Bürger gestattet, sofern das Gesetz dazu keine besonderen Bestimmungen enthält. Grundsätzlich darf auch jeder unbescholtene Schweizer Bürger mit Waffen handeln, solange er genug über Waffen weiß.

"Die Waffen vom NSU kamen teilweise aus der Schweiz", erinnert Funke. Ein Anreiz für Versammlungen sei auch, dass in der Schweiz deutsch gesprochen werde. "Das trifft ebenso auf Österreich und Liechtenstein zu, wo sich ebenfalls häufig deutsche Nazis aufhalten", sagt Funke. Die Vernetzung erfolge allgemein über einzelne Personen, häufig über junge Rechtsextreme.

Direkter Zugriff von Behörden ist schwieriger, weil die Schweiz kein EU-Mitglied ist

Die Treffen in der Schweiz würden von international operierenden Netzwerken abgehalten. "Die Schweiz ist kein Mitglied in der EU, ein direkter Zugriff der Behörden ist dadurch erschwert", erklärt Funke. Ein Beispiel: Ralf Marschner, der mit dem NSU-Trio zusammengearbeitet haben soll, lebt heute in der Schweiz.

Er war jahrelang als V-Mann für das Bundesamt für Verfassungsschutz tätig. Mehreren Ladungen in NSU-Untersuchungsausschüsse folgte er nicht. "Es ist behördlich verhindert worden, dass er angemessen vernommen werden konnte. Da sieht man, was eine Grenze in Europa nach wie vor ausmachen kann", sagt Funke.

Um an dieser Situation etwas zu ändern, müsse eine engere informelle und formelle Sicherheitskooperation zwischen den zuständigen Behörden erfolgen. Die Zusammenarbeit der Neonazis funktioniert über die Landesgrenzen anscheinend besser.

Weiterer Beleg dafür ist die Freundschaft zwischen dem Schweizer Unternehmer Silvan Gex-Collet und dem deutschen NPD-Vizepräsidenten Thorsten Heise. Nachdem dessen Sohn zwei linke Fotografen angegriffen und schwer verletzt hatte, brachte Heise ihn zu seinem Schweizer Freund, der als politischer Rechtsaußen gilt.

Verbindungen der deutschen Rechtsextremen bestehen auch nach Österreich

"Viele deutsche Nazis orientieren sich auch nach Österreich, das hängt jeweils von den konkreten Gegenständen der Gruppierungen ab", sagt Funke. Rechtsextreme mit internationalen Verbindungen peilten eher die Schweiz an, antisemitische Rechtspopulisten blickten häufiger nach Österreich. "In Österreich ist die Aufarbeitung des Holocaust um Jahrzehnte verzögert, das lockt Nazis ebenfalls an", sagt Funke.

Die besonders gewaltbereiten deutschen Neonazis hielten sich jedoch eher in der Schweiz auf. Die dortige direkte Demokratie gilt ihnen allerdings nicht als Vorbild. "Die Schweiz ist schließlich immer noch ein demokratisches Modell, die Rechtsextremen wollen eine nationale Revolution, die autoritär konzipiert ist", sagt Funke.

Über den Experten: Prof. Dr. Hajo Funke ist Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Rechtsextremismus und Antisemitismus in Deutschland. Bis zu seiner Emeritierung 2010 lehrte er am Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaften der Freien Universität Berlin. Von ihm ist jüngst erschienen: "Die Höcke-AfD. Vom gärigen Haufen zur rechtsextremen "Flügel"-Partei" und "Der Kampf um die Erinnerung: Nationalsozialismus, Erlösungswahn und Massenmord ".
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