- In seinem ersten "Sommerinterview" als Bundeskanzler stellt sich Olaf Scholz den Fragen von Tina Hassel zu Armut in Deutschland, Energiepreisen oder zu Corona.
- Vor allem das kommende Jahr sei mit Blick auf steigende Belastungen kritisch.
- Abgesehen von konkreten Antworten wie dieser liefert das Sommerinterview am Sonntagabend interessante Einblicke, wie Scholz sich und seine Kommunikationspolitik einschätzt.
Es gibt sicher dankbarere Zeiten für die erste Kanzlerschaft als diese: Corona, Ukraine-Krieg, Gas-Krise und natürlich die immer aktuelle Klimakatastrophe. In seinem ersten ARD-Sommerinterview als Bundeskanzler stellt sich
Über diese Themen sprach Tina Hassel mit Bundeskanzler Scholz im ARD-Sommerinterview:
Als Eisbrecher zeigt
Hassel konfrontiert Kanzler Scholz mit einer Zahl: „13,8 Millionen Menschen hatten im letzten Jahr kein sicheres Auskommen.“ Scholz beteuert seinen Wunsch, dass „in diesem Land Gerechtigkeit herrscht“ und führt an Beweisen für seine Tatkraft Erhöhungen bei Mindestlohn, Erwerbsminderungsrente und Bestrebungen für eine Garantie des Rentenniveaus an.
Mit den Fragen von Armutsbetroffenen konfrontiert, verweist Scholz auf die Maßnahmen, die seine Regierung bereits ergriffen habe, weist aber die Behauptung zurück, es solle eine steuerfreie Einmalzahlung statt Tariferhöhungen geben: „Es gibt diesen Vorschlag gar nicht.“ Dies sei „eine freie Erfindung eines Mediums, das spekuliert hat.“ Scholz stellt klar: „Niemand schlägt vor, dass die eigentlichen Lohnerhöhungen ausbleiben sollen.“ Stattdessen diskutiere man in der konzertierten Aktion darüber, „wie Staat, Gewerkschaften, Arbeitgeber, viele Fachleute sich zusammen mit dem Thema Inflation beschäftigen können“.
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Scholz will den möglichen Ergebnissen dieser am Montag beginnenden konzertierten Aktion nicht vorgreifen. Konkrete Maßnahmen würden ohnehin nicht sofort vereinbart werden, stattdessen solle ein Prozess aufgesetzt werden, „bei dem klar ist: Es werden sich in Deutschland wieder alle unterhaken, die Sozialpartner, der Staat. Das ist eine gute Tradition, die unser Land stark gemacht hat.“
Gleichzeitig führt Scholz noch einmal das 30-Milliarden-Entlastungspaket als Beweis für die Aktivität seiner Regierung an: „Sie sehen also, es passiert sehr, sehr viel.“ Auf die Frage, ob und welche Entlastungen noch kommen werden, verweist Scholz darauf, dass die aktuellen Entlastungen gerade erst anliefen und prognostiziert: „Das nächste Jahr wird die größte Herausforderung. Für dieses Jahr sagen fast alle, die nachgerechnet haben, dass wir bei den unteren und mittleren Einkommen ungefähr 90 Prozent der Preissteigerungen durch die vielen Maßnahmen, die wir ergriffen haben, aufgefangen haben. Aber da das weitergeht, werden wir uns weiter damit beschäftigen müssen.“
Es ist ein kleiner Schritt, den Hassel vom Thema Armutsgefährdung zum Thema Energiepreise gehen muss. Scholz rügt hier zuerst die Vorgängerregierung. Kurz nach Amtsantritt habe er in Bezug auf potenziell sinkende Energielieferungen nach Deutschland festgestellt, „dass es keinerlei Vorbereitung auf den Fall gegeben hat, dass so etwas passiert“. Gleichzeitig verweist Scholz auf das bisher Getane: Bau von Pipelines, Flüssiggasterminals, Gesetzesänderungen, der Beschluss, mehr Gas zu speichern und die Kohlekraftwerke weiterlaufen zu lassen.
Auf einen möglichen Gas-Wettkampf zwischen Privathaushalten und Industrie angesprochen, sagt Scholz: „Ich glaube, dass es wichtig ist, dass man auf beiden Feldern aktiv ist.“ Das mache man gerade, etwa durch Kredite für Energieunternehmen. Auf die Frage, ob er im Herbst sozialen Sprengstoff befürchte, antwortet der Kanzler: „Ich mache mir große Sorgen darüber, weil: Die Bürgerinnen und Bürger müssen ja zurechtkommen mit ihrem Leben. Und wenn plötzlich die Heizrechnung um ein paar Hundert Euro steigt, dann ist das eine Summe, die viele nicht wirklich bewältigen können. Das ist sozialer Sprengstoff.“
Beim Thema Corona bleibt Scholz hingegen deutlich unkonkreter. Zwar habe man einen Fahrplan auf den Weg gebracht, aber es fallen auch Nicht-Aussagen wie „Ich finde schon, Schulschließungen sollte es nicht mehr geben“, „Es muss darüber diskutiert werden, ob die Tests (in Schulen, Anm. d. Red.) wieder genutzt werden“, „Wir werden alles machen, was erforderlich ist und es wird auch rechtzeitig festgelegt sein“ oder „Ich glaube, dass man schon davon ausgehen muss, dass die Maske im Herbst und Winter wieder eine größere Rolle spielen wird als jetzt.“
So schlug sich Tina Hassel:
Die Fragen, die Hassel stellte, stellte sie gut und hakte nach, wenn es nötig war. Viel entscheidender aber sind die Fragen, die Hassel nicht stellte und das waren die zur Klimakrise. Aus Hassels Sicht vielleicht verständlich, folgt sie damit doch gängiger journalistischer Praxis in solchen Interviews, zuerst die Themen mit der scheinbar höchsten tagesaktuellen Relevanz abzufragen. Aber so ist es eben mit der Klimakrise, immer ist Aktuelles wichtiger und sie wird erst Thema, wenn es zu spät ist.
So schlug sich Olaf Scholz:
Tina Hassel spricht Scholz auch auf seinen Kommunikationsstil an. Er sei zwar kommunikativer als seine Vorgängerin Merkel, trotzdem würden Menschen sagen: „Sie dringen nicht richtig durch.“ Daher fragt Hassel, wie Scholz gerade in so einem Krisenjahr besser kommunizieren könne. Die Antworten, die Scholz gibt, lassen erahnen, wo das Problem liegt: In der Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Denn das, was Scholz dann präsentiert, zeigt, was er unter Kommunikation versteht.
„Ich bin überzeugt, dass ich richtig darin liege, dass ich nicht zu den Politikern zähle, die jede Woche eine Ankündigung machen, von denen etwa 90 Prozent nichts werden. Damit gibt’s immer mal wieder Berichterstattung in einem föderalen Land wie Deutschland mit 16 Landesregierungen, die alle ziemlich unterschiedlich sind. Mit einer Parteiendemokratie, die Koalitionsregierung hervorbringt, ist es notwendig, dass man bei den Ankündigungen, die man macht, auch dafür sorgt, dass sie hinterher auch was werden und da finde ich, muss man, wenn man jetzt schon auf das bisherige Jahr mal von in zehn Jahren rückwärts guckt, sagen: Da ist viel passiert.“
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Er hätte auch einfach sagen können: „Für mich zählen Taten mehr als wortreiche Reden.“ Und mit ein bisschen Selbstkritik hätte Scholz dann auch noch anschließen können: „Ich könnte diese Prinzipien aber auch noch besser und konkreter kommunizieren, das gelingt mir nämlich noch nicht immer.“ Und mit noch ein bisschen mehr Selbstkritik hätte er die Antwort damit beenden können: „Ja, Frau Hassel, manchmal wirkt das wie im Fall der von Ihnen gerade angesprochenen Journalistin, die ich beim G7-Gipfel abgekanzelt habe, ein wenig arrogant. Das ist nicht meine Absicht, aber vielleicht könnte ich besser erklären, wenn ich etwas nicht erklären kann oder will.“
Das Fazit:
Es sind vor allem zwei Dinge, die man aus dem Kanzler-Sommerinterview mit Tina Hassel mitnehmen kann. Zum einen, dass sich Olaf Scholz selbst als Mann der Tat sieht. Etwa, wenn er über sich und seine Regierung sagt: „Gerade in einer so schwierigen Zeit ist es nicht die Zeit für Leute, die ständig irgendwas sagen, sondern es ist die Zeit für Leute, die dafür sorgen, dass grundlegende Entscheidungen getroffen werden. Und wir machen alles anders als die letzten Jahrzehnte.“
Nun kann man spekulieren, ob Scholz mit „Leute, die ständig irgendwas sagen“ etwas Prinzipielles meint oder ob er da konkrete Personen etwa aus der Oppositionsspitze vor Augen hat. Grundsätzlich kann man aber gerade angesichts der immer drängender und immer häufiger werdenden Krisen festhalten, dass Entscheidungsträger, die entscheiden und nicht nur reden, mehr als hilfreich sind – noch dazu, wenn sie bedächtig und mit Weitblick entscheiden.
Fairerweise muss man festhalten, dass Aussagen wie „wir machen alles anders als die letzten Jahrzehnte“ vor dem Hintergrund der vielen nicht-getroffenen Entscheidungen der Vorgängerregierungen zwar nicht ganz falsch sind. Trotzdem muss man auch hier genauer hinschauen, wer in der Regierung die wirklichen Treiber der wichtigen Entscheidungen sind, etwa beim Klimaschutz.
Was das Sommerinterview zum anderen offenlegte, war die Art, wie Scholz über seine eigene Kommunikation denkt. Ein Mann der Tat zu sein oder sein zu wollen, ist das eine. Das andere ist es, dies auch gekonnt kommunizieren zu können. Scholz glaubt offenbar, dass Nicht-Kommunikation ein Zeichen von Tatendrang ist, aber es geht eben auch beides: machen und erklären.
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