In Berlin beraten Politik und Wirtschaft über den Wiederaufbau der Ukraine. Im Interview mit unserer Redaktion spricht die ukrainische Abgeordnete Halyna Yanchenko über die Nöte des Alltags – und den Kampf gegen die Korruption.

Ein Interview

In den Berliner Messehallen dominieren am Dienstag die Farben Blau und Gelb: Die Bundesregierung richtet zusammen mit der Ukraine eine Wiederaufbau-Konferenz aus. Behörden, Zivilgesellschaft und Unternehmen sollen sich vernetzen und beraten, wie ein Land wiederaufgebaut werden kann, in dem seit mehr als zwei Jahren Krieg tobt.

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Die Ukraine will hier allerdings nicht als Bittsteller auftreten. Auch Halyna Yanchenko, Parlamentsabgeordnete der Selenskyj-Partei "Diener des Volkes", sagt im Interview mit unserer Redaktion: "Wir Ukrainer haben unsere Würde. Wir nehmen nicht nur, wir haben auch etwas zu geben."

Frau Yanchenko, in Berlin findet eine Wiederaufbau-Konferenz statt, obwohl in der Ukraine jeden Tag neue Zerstörungen durch die russischen Angriffe entstehen. Wie sinnvoll ist das?

Halyna Yanchenko: Ich spreche nicht so gerne von Wiederaufbau, eher von Genesung. Wir brauchen einen Heilungsprozess. Und zwar jetzt. Die russische Komplettinvasion dauert seit zweieinhalb Jahren an. Jeden Tag fügt Russland unserem Land und unseren Menschen Schaden zu – durch Angriffe auf Kindergärten, Krankenhäuser, Wohnhäuser. Die Menschen können nicht auf das Ende des Krieges warten, sie brauchen jetzt Hilfe. Bis jetzt tragen vor allem Freiwillige diese Last.

Allerdings soll geht es auf der Konferenz auch um eine Perspektive für den Wiederbau.

Ja. In den Verhandlungen über militärische Hilfe haben wir gelernt, dass unsere westlichen Partner lange brauchen, um unsere Bedürfnisse zu verstehen. Es hat ein Jahr gedauert, bis Deutschland der Ukraine Panzer geliefert hat, die wir für unsere Verteidigung dringend brauchen. Die Genesung unseres Landes muss deshalb früher beginnen. Es muss einen gemeinsamen Plan geben für den Aufbau unseres Landes für den Tag nach dem Ende dieses Krieges – und nicht erst zehn Jahre danach.

"Wir können uns nur mit Hilfe von Innovationen verteidigen – und das machen wir."

Halyna Yanchenko

Sowohl Deutschland als auch die Ukraine wollen auch private Investitionen in Ihrem Land anregen. Allerdings zögern viele Unternehmen, sich in einem Land zu engagieren, in dem der Krieg tobt. Wie können sie überzeugt werden, das Risiko einzugehen?

Diese Frage treibt mich seit der Invasion um. Wir arbeiten an einem guten Investitionsklima und sprechen mit ausländischen Investoren. Wir wollen zum Beispiel amerikanische und deutsche Agenturen überzeugen, Unternehmen passende Versicherungen gegen Kriegsrisiken anzubieten. Die Ukraine ist gerade das beste Land für Investitionen mit Militärbezug.

Warum?

Wir erleben einen Krieg, den es noch nicht gab. Er ist neu in Bezug auf seine Intensität und die verwendeten Technologien. Die ukrainische Armee ist kleiner als die russische. Wir können uns nur mit Hilfe von Innovationen verteidigen – und das machen wir. Moderne Kriegstechnologie kann hier an der Front getestet werden.

Ein Stolperstein gerade für die staatliche Unterstützung beim Wiederaufbau der Ukraine ist die Korruption. Die Ukraine gilt – nach Russland – als zweitkorruptestes Land Europas.

Ich halte diese Darstellung für überzogen. Zum Teil tragen auch die Ukrainer selbst zu dieser Übertreibung bei. Korruption ist unser nationales Trauma. Nachdem der frühere Präsident Viktor Janukowitsch 2014 geflohen war, haben die Zivilgesellschaft und Journalisten aufgedeckt, in welchem Reichtum er gelebt hat. Seitdem wurde viel über das Thema gesprochen – aber in den vergangenen zehn Jahren ist viel passiert. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Sorgen über Korruption auch als Vorwand genutzt werden.

Inwiefern?

Manche westliche Politiker zeigen sich zurückhaltend mit Hilfen für ukrainische Zivilisten, weil sie angeblich Korruption fürchten. Das ist eine schlechte Ausrede, denn diese Haltung kostet Leben.

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Was unternimmt die Ukraine im Kampf gegen die Korruption?

Wir haben viele Reformen umgesetzt. Wir haben eine Antikorruptionsinfrastruktur mit neuen Strafverfolgungsbehörden geschaffen. Außerdem treiben wir die Digitalisierung voran, inspiriert vom Vorbild Estlands. Die Esten haben den schönen Slogan: Dein Computer wird dich nie um ein Schmiergeld bitten. Wir haben zum Beispiel ein eigenes Ministerium für digitale Transformation gegründet und eine staatliche App geschaffen. Mit dieser App lassen sich staatliche Dienste in Anspruch nehmen – über das Telefon. Das hilft auch im Kampf gegen die Korruption. Inzwischen kommen die Esten zu uns, um von uns zu lernen. Das ist uns wichtig: Wir Ukrainer haben unsere Würde. Wir nehmen nicht nur, wir haben auch etwas zu geben.

Über die Gesprächspartnerin

  • Halyna Yanchenko wurde 1988 in der Stadt Schytomyr geboren. Sie studierte Soziologie und Jura und leitete unter anderem ein Marktforschungsunternehmen. Seit 2019 ist sie Mitglied des Parlaments der Ukraine für die Partei „Diener des Volkes“ von Wolodymyr Selenskyj. Sie beschäftigt sich dort unter anderem mit Wirtschaftsförderung und Korruptionsbekämpfung.
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