- Der russische Botschafter in Deutschland hat mit seinen Äußerungen zuletzt für einigen Unmut gesorgt.
- Netschajew erklärte in Interviews, die Kriegsverbrechen in Butscha seien "inszeniert".
- Ehemalige Verhandlungspartner vermuten allerdings eine andere persönliche Meinung hinter den Äußerungen des Botschafters.
Es ist nicht lange her, da wurde er abberufen. Offiziell war es Teil der üblichen Rotation, die Diplomaten nach einigen Jahren im Ausland wieder weiter versetzt. Der eigentliche Grund für die Abberufung war aber laut Beobachtern ein anderer. Ein Interview wurde ihm zum Verhängnis. Es geht um den ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk. Er war in Berlin wegen seines als zu forsch wahrgenommenen Auftretens und Aussagen über den ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera in Ungnade gefallen. Aber traf es den Richtigen? Wenn es nach der Meinung einiger Journalisten in Deutschland geht, wurde der falsche Botschafter abberufen. Demnach sollte eher ein anderer gehen: Sergei Netschajew ist der russische Botschafter in Berlin. Er residiert in dem palastartigen Gebäude mit Adler-Emblem unter den Linden, der russischen Botschaft.
Auch ihm könnten einige Interviews zum Verhängnis werden oder sollten es viel mehr. Beispielsweise eines mit der "Stuttgarter Zeitung" Anfang des Jahres, bei dem er Sätze sagte wie: "Der Befehl an die Kommandeure, ihre Truppen – die eigentlich auf unserem Territorium stehen – in die Kasernen zurückzuverlegen, ist klar. (…) Wir wollen keinen Krieg, wir planen keine Offensive." Die Druckertinte war kaum getrocknet, da waren die Aussagen schon nichts mehr wert.
Wenige Stunden später rollten russische Panzer über die ukrainische Grenze. Die sogenannte "Spezialoperation" hatte begonnen.
Butscha? "Eine Inszenierung"
Bis heute hat sich Botschafter Netschajew nicht für diese offensichtlichen Lügen entschuldigt, noch die Rechtmäßigkeit der "Spezialoperation" infrage gestellt. Die Verantwortung für den Krieg sieht er vielmehr bei der Europäischen Union, wie die Botschaft unlängst in einer Erklärung klarmachte. Nach dem Massaker von Butscha erklärte Netschajew in einem Interview mit der Märkischen Oderzeitung, die Toten seien erst in der Ortschaft gelegen, nachdem die russischen Truppen bereits abgezogen waren. Er sprach von "einer Inszenierung", obwohl unabhängige internationale Stellen längst dokumentieren konnten, dass es sich um die Taten russischer Soldaten handelte.
Der russische Botschafter kommuniziert klar auf Kreml-Linie. Ob es sich dabei auch immer um seine persönliche Meinung handelt, ist unklar. Der frühere deutsche Botschafter in Moskau, Rüdiger von Fritsch, erklärte im ARD-Morgenmagazin kurz nach Beginn der russischen Offensive an Netschajew gewandt: "Sergei Jurjewitsch, wir kennen uns gut, wir haben viel zusammengearbeitet, wir haben uns gemeinsam bemüht. Ich glaube, ich weiß, wo du stehst. (…) Sergei Jurjewitsch, jetzt ist der Punkt, an dem du in die Öffentlichkeit gehen und dies öffentlich wiederholen solltest: Dies ist nicht mein Krieg. Dies ist nicht der Krieg der Russen. Wenn du das tust, wenn das viele deiner Kollegen weltweit tun würden, wäre das ein ungeheuer starkes Signal. Weil dieser Präsident führt euch ins Verderben." Bisher scheint der Appell seine Wirkung nicht entfaltet zu haben. Der russische Botschafter lässt keine Kritik an seinem Präsidenten erkennen.
Deutschland-Kenner und Feingeist
Dabei ist er gewissermaßen deutsch sozialisiert worden, hat viele Jahre hier gelebt und gearbeitet. Netschajew kennt sich aus mit dem deutschsprachigen Kulturraum, spricht fließend Deutsch und eher untypisch in Russland: Englisch. Er gilt als Feingeist, hat in Moskau Germanistik studiert und war anschließend in der sowjetischen Botschaft in der DDR tätig. Nach einer kurzen Zeit in der Mongolei kehrte er nach dem Fall der Mauer als Berater in die russische Botschaft in Bonn zurück. Nach Stationen als russischer Botschafter in Wien und leitender Funktion im russischen Außenministerium ist Netschajew seit 2018 russischer Botschafter in Berlin.
Seither hat er sich mit seinen Äußerungen allerdings wenig Freunde gemacht. Egal ob im Prozess um den Mordfall im Tiergarten, bei dem ein Georgier im Auftrag des russischen Staates von Agenten ermordet wurde, oder dem Sendeverbot für den russischsprachigen TV-Sender RT Deutsch, für Netschajew handelt es sich immer um politisch motivierte Entscheidungen. Ebenso die Verbannung von Pjotr Iljitsch Tschaikowskis Ballett "Der Nussknacker" aus dem Berliner Staatsballett. Es wurde beanstandet, dass das Stück nicht mehr zeitgemäß sei. Für den russischen Botschafter ein "Säuberungskampf", der "schmerzlich an wohlbekannte Entwicklungen aus der Vergangenheit" erinnere. In Russland mögen viele Verbote und Regulierungen auf Druck aus dem Kreml hin geschehen. Vielleicht ist dieser Gedankengang für Netschajew deshalb so naheliegend gewesen.
Lesen Sie auch:
- Machtspiel um Putins Gas: Gazprom fordert Turbine
- Angeblicher Verrat in ukrainischen Sicherheitsbehörden
Verhältnismäßig wenig Kritik an Netschajew
Warum sich über die zu forschen Forderungen des ukrainischen Botschafters Melnyk mehr echauffiert wurde als über die offensichtlichen Lügen des russischen Botschafters und dessen Verdrehung der Wahrheit, liegt vielleicht auch an dem unterschiedlichen medialen Interesse an den beiden Personen. Melnyk saß zu Hochzeiten in jeder Talkshow dieses Landes und wiederholte seine Forderungen nach noch mehr Waffen. Netschajew zog es hingegen vor, sich vom kremlnahen TV-Sender RT Deutsch interviewen zu lassen und trat sonst lediglich in regionalen Tageszeitungen in Erscheinung.
Letztlich zu erklären ist es trotzdem nicht, weshalb die Kritik an den Aussagen des russischen Botschafters verhältnismäßig gering bleibt. Vielleicht hoffen manche Politiker und Kommentatoren doch noch darauf, dass Netschajew sein Gewissen entdeckt und sich vom russischen Angriffskrieg distanziert. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist allerdings verschwindend gering, dafür hat er bereits zu viele Möglichkeiten verstreichen lassen.
Verwendete Quellen:
- Moz.de: Russlands Botschafter Sergei Netschajew: "Wir haben nicht vor, die Ukraine zu besetzen"
- Tagesspiegel.de: Botschafter Netschajew zu Sendestopp von RT "Es wird sicher eine Reaktion von russischer Seite geben"
- Stuttgarter Zeitung: Russischer Botschafter zum Ukraine-Konflikt: "Wir planen keine Offensive"
- RND.de: "Tiergarten"-Prozess: Russischer Botschafter hält Mordurteil für politisch motiviert
- Berliner-Zeitung.de: Russischer Botschafter: "Geht dieser Säuberungskampf nicht zu weit?"
- Berliner-zeitung.de. Diplomat an russischen Botschafter: "Sag, dass das nicht Dein Krieg ist!"
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.