• Der Osten der Ukraine steht im Fokus des russischen Angriffskriegs.
  • Zankapfel ist der Donbass samt der selbsternannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk aber schon länger.
  • Wie wirtschaftlich bedeutend die Region ist und warum die Ukraine auf keinen Fall auf das Gebiet verzichten will.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Bachmut, Lyman, Kramatorsk – der Krieg in der Ukraine hat einst wenig geläufigen Städten aus der Ost-Ukraine zu trauriger Bekanntheit verholfen. Denn der Krieg findet vor allem im Osten der Ukraine statt und steht seit Monaten im Fokus von Militärexperten und Analysten.

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Dass der Osten eine zentrale Rolle im Krieg spielt, hat vorrangig etwas mit seiner geografischen Lage zu tun: Im Osten grenzt die Ukraine an Russland. Zankapfel aber ist der Donbass, eine Kohleabbau- und Industrieregion, schon länger. Große Teile der dortigen Gebiete Donezk und Luhansk sind seit 2014 unter Kontrolle prorussischer Separatisten.

Mehrheit im Donbass ist russischsprachig

Seit 2014 kämpfen im Donbass ukrainische Streitkräfte gegen von Russland bezahlte und ausgerüstete Separatisten, die von Moskau militärisch, finanziell und operativ unterstützt werden. Nach Russlands Angriff im Februar 2022 wurden die Separatistenarmeen nach und nach in die russischen Streitkräfte integriert.

Die Mehrheit der Bevölkerung im Donbass spricht Russisch als Muttersprache. Die Region zog seit Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert Arbeiter aus allen Region des Zarenreichs und später der Sowjetunion an. Doch wie russifiziert der Donbass kulturell und sprachlich auch ist, ethnische Russen sind nicht in der Mehrheit. Die Einstellungen und Sympathien der Bevölkerung im Donbass ist schwierig einzuschätzen.

Diktatorische, quasi-staatliche Strukturen

Das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien kam 2019 in einem Bericht zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit der Menschen in den separatistischen "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk lieber zum ukrainischen Staat gehören wollen. In den "Volksrepubliken" hat Moskau seit 2014 diktatorische, quasi-staatliche Strukturen installiert.

"Die Gebiete gehören rechtlich zur Ukraine, aber seit 2014 stehen sie nicht mehr unter Kontrolle Kiews", sagt Nikolaus von Twickel vom "Zentrum Liberale Moderne" unserer Redaktion.

Die Gebiete, die von Russland kontrolliert würden, machten nur etwa ein Drittel der Fläche der zwei Regionen aus. "Aber sie umfassen dicht besiedelte Gebiete, fast die Hälfte der Bevölkerung der beiden Regionen lebt dort. Außerdem liegen dort viele Kohlegruben sowie große Industriebetriebe", sagt der Experte.

Identifikation mit Wirtschaftsregion

Die Zahl von 3,75 Millionen, mit denen Moskau die Bevölkerung in den "Volksrepubliken" beziffert, hält von Twickel für übertrieben. "Realistischer sind zwei Millionen", sagt er. Dabei spielt ethnische oder religiöse Zugehörigkeit für die Definition und Identität der Bevölkerung kaum eine Rolle. Auch die geografischen Grenzen hätten wenig historische Relevanz. "Wahrscheinlich identifizieren sich die meisten mit der Wirtschaft im Donbass – dem gemeinsamen Erbe der Kohleminen und Stahlwerke", sagt von Twickel.

Wirtschaftlich bestehe trotzdem in hohem Grad eine Abhängigkeit von Moskau. Weil der Donbass wichtige Wirtschaftsgüter nicht selbst produziert, ist er auf Hilfszahlungen aus dem Kreml angewiesen. Schätzungen beziffern diese Hilfsgelder auf eine Milliarde Dollar jährlich.

Die Region krankt zusätzlich daran, dass in den umkämpften Gebieten große Teile der Industrieanlagen und der Infrastruktur beschädigt, geplündert oder zerstört wurden. In der Folge wurden Versorgungsketten unterbrochen, die Wirtschaft brach massiv ein. Moskau zementierte seine Stellung im Donbass weiter, als es 2015 begann, Renten, Sozialleistungen und Löhne in den beiden "Volksrepubliken" auszuzahlen.

Locken mit russischen Pässen

"Es gab außerdem seit 2014 sehr viel Propaganda. Eigene Medien wurden aufgebaut, die das Narrativ des Kremls transportiert haben. Medien, die vorher im Donbass ansässig waren, sind oft nach Kiew gegangen", weiß von Twickel.

Ein entscheidender Moment sei auch 2019 gewesen, als Putin einen Erlass unterzeichnete, wonach Menschen aus dem Donbass leichteren Zugang zu russischen Pässen haben. "Mehr Menschen haben sich in der Folge zu Russland bekannt, aber die Zahlen sind nicht so groß, wie man vielleicht denkt. Nur etwa ein Drittel hat russische Pässe", sagt von Twickel.

Den Menschen werde allerdings seit der Annexion immer mehr bewusst, dass sie in den nun russisch verwalteten Gebieten große Schwierigkeiten bekommen könnten, wenn sie weiterhin nur ukrainische Pässe haben. "Es ist deshalb zu erwarten, dass die Zahl der russische Passinhaber steigen wird", sagt von Twickel. Es sei aber bezeichnend, dass die Russen es nicht geschafft hätten, mehr als ein Drittel davon zu überzeugen, russische Pässe anzunehmen.

Experte: "So eine Politik kann niemand machen"

Von Twickel kennt auch die Narrative, mit denen der Kreml arbeitet: "Russland versucht an erster Stelle den Leuten zu sagen: 'Wir sind wirtschaftlich stärker und geben euch eine sicherere Zukunft'", beobachtet er. Viel Propaganda laufe über Telegram. "Es werden hohe Renten, Kindergeld und Zahlungen für Familien versprochen. Es geht nicht mehr vorrangig um anti-ukrainische und anti-westliche Argumente, Moskau will sich vor allem als wirtschaftlicher und sozialer darstellen", erklärt von Twickel.

"Wenn man es objektiv betrachtet, käme die Ukraine auch ganz gut ohne die Krim zurecht und könnte möglicherweise auch ohne den Donbass gut zurechtkommen. Die Hauptwirtschaftszweige, Kohle und Stahl, sind relativ marode." Aus wirtschaftlicher Sicht sei es gar nicht schlecht, die Region den Russen zu vermachen, sagt von Twickel.

"So eine Politik kann aber niemand machen. Es gibt Menschen, die alles verloren haben und zurückwollen nach Hause", betont der Experte. Dass die Ukraine an der Region festhält, hat noch einen weiteren Grund: "Es wäre ein Präzedenzfall. Wenn man anfängt, auf Gebiete zu verzichten, dann beginnt möglicherweise ein Domino-Effekt", sagt von Twickel. Das sei das stärkste Argument aus Sicht der Ukraine, damit gar nicht erst anzufangen.

Über den Experten: Nikolaus von Twickel ist Russland-Experte und Gründungsredakteur der Website "Russland verstehen". Von Twickel hat als Redakteur und Korrespondent in Russland gearbeitet und war in der Vergangenheit Medienverbindungsoffizier der OSZE-Beobachtermission in Donezk/Ukraine.

Verwendete Quellen:

  • Zentrum für Osteuropa und internationale Studien (ZOIS): Mehrheit im (gesamten) Donbass verortet die selbsternannten Volksrepubliken weiterhin in der Ukraine
  • Centre for European Policy Studies (CEPS): Beyond frozen conflict
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