• Seit mehr als einem halben Jahr führt Russland offen Krieg in Europa – doch Kremlchef Putin stellt die Sanktionen des Westens als Hauptübel dar.
  • In einer mit Spannung erwarteten Rede vor internationalem Publikum zeichnet er sein Bild einer neuen, multipolaren Welt.
  • Außerdem droht er mit Lieferstopp von Öl und Gas, sollten Energiepreise gedeckelt werden.

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Mehr als sechs Monate nach Kriegsbeginn hat Russlands Präsident Wladimir Putin die westlichen Sanktionen gegen sein Land als "Bedrohung für die ganze Welt" kritisiert. Unter Führung der USA sei der Westen in ein regelrechtes "Sanktionsfieber" verfallen, sagte Putin am Mittwoch beim 7. Östlichen Wirtschaftsforum in Wladiwostok am Pazifik. Der Kremlchef sprach von "aggressiven Versuchen, anderen Ländern ein Verhaltensmodell aufzuzwingen, sie ihrer Souveränität zu berauben und sie dem eigenen Willen zu unterwerfen".

Die weitreichenden Strafmaßnahmen, die Amerika und Europa gegen Russland wegen des Einmarschs in die Ukraine verhängt haben, bezeichnete Putin als Zeichen bröckelnder US-Dominanz in der Welt. Diese sei zum Katalysator einer gegen Russland gerichteten "Aggression" geworden, behauptete der 69-Jährige.

Vor Staatsgästen unter anderem aus China, der Mongolei und Myanmar beschwor er das Bild einer aufblühenden Asien-Pazifik-Region: Deren Länder, so Putin, seien angesichts "tektonischer Veränderungen" in der Welt zu "neuen Zentren des wirtschaftlichen und technologischen Wachstums" geworden.

Putin unzufrieden mit dem Abkommen über die Ausfuhr von Getreide aus der Ukraine

Unzufrieden zeigte sich der Kremlchef mit der Umsetzung des im Juli geschlossenen Abkommens über die Ausfuhr von Getreide aus der Ukraine. Anders als zugesichert hielten Beschränkungen für russische Exporte weiter an, sagte er. Putin deutete an, dass das unter türkischer Vermittlung geschlossene Abkommen jederzeit platzen könnte: "Vielleicht sollten wir darüber nachdenken, den Export von Getreide und (...) Lebensmitteln entlang dieser Route zu begrenzen?", sagte er. "Ich werde mich zu diesem Thema definitiv mit dem Präsidenten der Türkei, Herrn Erdogan, beraten."

Russland halte dem Sanktionsdruck gut stand, so Putin. Moskau behauptet immer wieder, dass westliche Staaten mehr unter den von ihnen verhängten Strafmaßnahmen litten als Russland. Nicht erwähnt werden in diesem Kontext üblicherweise die massiven Probleme, mit denen sich Russlands Wirtschaft seit Kriegsbeginn konfrontiert sieht – etwa die Abwanderung von Fachkräften oder Schwierigkeiten zum Beispiel in der Automobil- und Luftfahrtbranche.

Mit Blick auf den Gasstreit mit Europa brachte Putin erneut die Möglichkeit ins Gespräch, die Pipeline Nord Stream 2 in Betrieb zu nehmen. "Wir bauen nichts umsonst", sagte er. "Bei Bedarf, bitteschön, werden wir Nord Stream 2 einschalten." Den Vorwurf, Russland setze Gas als Waffe ein, bezeichnete Putin als "Unsinn und Wahn".

Putin zu Gaslieferungen: "Geben Sie uns eine Turbine und morgen starten wir Nord Stream wieder"

Russland liefere "so viel wie nötig entsprechend den Anforderungen" der Importländer. Den Stopp der Gaslieferungen nach Deutschland durch die Pipeline Nord Stream 1 begründete Putin mit einer defekten Turbine. Verantwortlich seien der Westen und seine Sanktionspolitik.

Russlands Staatskonzern Gazprom hatte zuletzt die ohnehin stark gedrosselten Gaslieferungen über Nord Stream 1 ganz eingestellt – mit Verweis auf technische Probleme, die angeblich aufgrund der Sanktionen nicht zu beheben seien.

Putin sagte dazu in Wladiwostok: "Geben Sie uns eine Turbine und morgen starten wir Nord Stream wieder." Russland sei bereit, die Gaslieferungen sofort wieder aufzunehmen. "Alles, was Sie tun müssen, ist einen Knopf zu drücken", sagte er an die Europäer gerichtet.

Die Bundesregierung hält diese Begründung hingegen für vorgeschoben. Vermutet wird, dass Moskau so Druck machen will, damit die Pipeline Nord Stream 2, deren Genehmigungsverfahren kurz vor dem Angriff auf die Ukraine auf Eis gelegt wurde, nun doch noch in Betrieb genommen wird.

Putin droht mit Lieferstopp von Öl und Gas

Im Fall einer Deckelung der Energiepreise drohte Putin mit einem Lieferstopp von Öl und Gas. Die Preise zu deckeln "wäre eine absolut dumme Entscheidung", sagte Präsident Wladimir Putin. Russland werde "gar nichts mehr liefern", fuhr er fort, "kein Gas, kein Öl, keine Kohle" – sollten die Lieferungen nicht im wirtschaftlichen Interesse des Landes sein.

Russland werde "nichts außerhalb der vertraglichen Vereinbarungen liefern", fuhr der russische Staatschef fort und wandte sich damit an die importierenden Vertragsländer. Die europäischen Staaten rief er dazu auf, "zur Vernunft zu kommen" sowie die Vereinbarungen einzuhalten.

Die EU-Kommission hat kurz nach Putins Aussagen vorgeschlagen, den Preis für Gasimporte aus Russland zu deckeln. "Wir müssen Russlands Einnahmen verringern, die Putin zur Finanzierung seines grausamen Krieges gegen die Ukraine verwendet", sagte Kommissionschefin Ursula von der Leyen am Mittwoch in Brüssel.

Krieg in der Ukraine tobt seit über sechs Monaten

Explizit zur Ukraine äußerte sich Putin in seiner mit Spannung erwarteten Rede erst auf Nachfrage des Moderators. Den Krieg, der UN-Angaben zufolge bereits mehr als 5.700 Zivilisten das Leben kostete, verteidigte der Kremlchef einmal mehr als angeblich notwendige Maßnahme, um Russland zu schützen.

Russlands Truppen waren Ende Februar in die Ukraine einmarschiert. Putin begründete den Krieg, der in Russland lediglich als "militärische Spezial-Operation" bezeichnet wird, damals unter anderem mit der angeblichen "Befreiung" der Ukraine von Nationalisten.

Zudem behauptet Moskau immer wieder, die Ukraine hätte andernfalls Russland angegriffen. In diese Richtung äußerte sich Putin auch am Mittwoch und sagte: "Nach vielen Versuchen, dieses Problem auf friedlichem Weg zu lösen, hat Russland entschieden, spiegelbildlich auf Handlungen unseres potenziellen Feinds zu antworten: auf bewaffnetem Weg. Wir haben das bewusst getan."

Putin gibt sich siegessicher: "Wir werden nichts verlieren"

"Ich kann sagen, dass der hauptsächliche Zugewinn die Stärkung unserer Souveränität ist – und das ist ein unweigerliches Ergebnis dessen, was gerade passiert", sagte Putin. Bereits in der Vergangenheit hatte er den Einmarsch ins Nachbarland als notwendigen Präventivschlag dargestellt, um einem angeblich bevorstehenden ukrainischen Angriff auf Russland zuvorzukommen.

Viele internationale Experten hingegen werten das als reinen Vorwand für den brutalen russischen Angriffskrieg. Sie gehen zudem von hohen Verlusten in der russischen Armee aus. Ungeachtet dessen betonte Putin nun mit Blick auf den sich in die Länge ziehenden Krieg: "Wir haben (dadurch) nichts verloren und werden nichts verlieren." (dpa/AFP/lh)

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