• Die russischen Truppen erleben im Nordosten der Ukraine derzeit ein militärisches Debakel.
  • Nun wird sogar Präsident Putin ungewöhnlich direkt und scharf kritisiert, vor allem von Russlands Ultra-Nationalisten.
  • Auch Tschetscheniens Präsident Kadyrow zeigte sich übers Wochenende enttäuscht.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Weyell sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Ramsan Kadyrow gilt als enger Freund des russischen Präsidenten und Unterstützer des Angriffskrieges in der Ukraine.

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Zu Beginn der Invasion hatte der tschetschenische Präsident stolz vor seinen Männern posiert. Sie sollten die Elite-Truppen der russischen Streitmacht sein, besonders kampferprobt und brutal, und eine entscheidende Rolle bei der Einnahme der Städte in der Südukraine spielen.

Nun sind seit Beginn der Invasion rund sieben Monate vergangen und nichts läuft wie geplant. Zunächst musste die russische Führung eingestehen, dass das eigentliche Ziel, die Eroberung Kiews und die Absetzung der dortigen Regierung, aufgrund der schlechten Performance der eigenen Truppen unmöglich geworden war.

Also passte man sich an und erklärte kurzerhand die Eroberung der Ostukraine zum Ziel. Die russische Armee startete dort im Frühjahr eine erneute Offensive nach Abzug aller Truppen im Norden. Dass die russische Armee auch dort nicht wirklich vorankam, war in den letzten Wochen immer augenscheinlicher geworden.

Am vergangenen Wochenende eroberte die ukrainische Armee schließlich große Teile des Gebiets zurück, nachdem die russische Armee offenbar überhastet geflohen war. Der Kreml verteidigte die Maßnahme als beabsichtigte "Umgruppierung", aber selbst in Russland und bei seinen Verbündeten werden Stimmen laut, die Kritik an der Operation selbst üben.

Kritik von Tschetschenen-Führer Kadyrow

Tschetschenen-Führer Kadyrow kritisierte Fehler bei der Durchführung der Operation. In einer Sprachnachricht bei Telegram wetterte er: "Wenn heute oder morgen keine Änderungen in der Strategie der militärischen Sonderoperation vorgenommen werden, muss ich mit der Führung des Verteidigungsministeriums und der Führung des Landes sprechen, um ihnen die tatsächliche Situation vor Ort zu erklären." Kadyrow hatte selbst Soldaten entsandt und erklärte, dass diese zu wenig vorbereitet worden waren und keine klare Strategie erkennbar sei.

Auch prorussische Militärblogger hatten das Verhalten der russischen Regierung kritisiert. Während sich die Truppen aus dem Nordosten der Ukraine zurückzogen, war Russlands Präsident Putin in Moskau und weihte anlässlich des 875. Geburtstag der Hauptstadt ein Riesenrad und ein Sportzentrum ein.

Für einen Ultranationalisten eine "Milliarden-Rubel-Party", wie er auf Telegram schrieb. Für ihn sei angesichts eines "so schrecklichen Scheiterns", viel mehr die Frage, warum die Truppen in der Ukraine so schlecht ausgerüstet seien. Auch einige Kommunalpolitiker in Moskau und St. Petersburg kritisierten das Verhalten des Präsidenten.

Russland-Expertin zu Kadyrow: "Er zeigt trotzdem seine Loyalität"

Für Russland-Expertin Sarah Pagung von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik stellt die bisherige Kritik keine existenzielle Bedrohung für die Macht des russischen Präsidenten dar. Gegenüber unserer Redaktion erklärte sie: "Die kritischen Stimmen, die wir bisher wahrnehmen, sind solche, die sich am Rande des Systems befinden."

In Russland sei Loyalität nach wie vor die wichtigste Kernkompetenz, um Karriere zu machen und entsprechend gingen Akteure innerhalb des Systems ein großes Risiko ein, wenn sie sich kritisch äußern würden. Auch Tschetschenen-Chef Kadyrow habe das verstanden: "Er zeigt trotzdem seine Loyalität und hält fest an dem Narrativ, dass Putin selbst für die Misserfolge nicht verantwortlich ist. Dass Kadyrow an anderen Bereichen des Staatsapparats zweifelt, ist hingegen nicht neu."

Trotzdem sind die Äußerungen laut Pagung bemerkenswert: "Man war in Russland nicht darauf vorbereitet, dass es so schlecht läuft. Ganz offensichtlich gibt es keinen Leitfaden für Statements, stattdessen kann man dabei zusehen, wie die Lage von einzelnen Akteuren ehrlich interpretiert wird." Die Erklärung der russischen Regierung, es handle sich bei dem Rückzug um eine Regruppierung, würde auch bei der eigenen Bevölkerung und Verbündeten kaum Glaubwürdigkeit erzeugen.

Regime-Wechsel in Russland?

An einen Regime-Wechsel aufgrund der Kritik am Kriegsverlauf glaubt Pagung allerdings nicht, dafür fehlten die Kräfte, die das wirklich wollen: "Das was in Russland an Opposition übrig ist, sitzt entweder im Gefängnis oder im Ausland. Und diejenigen, die noch in Freiheit leben, können sich nicht äußern ohne Gefahr zu laufen, verhaftet zu werden." Die Risse müssten in der Elite selbst entstehen, so Pagung: "Das sehen wir momentan noch nicht."

Vielmehr würden die militärischen Niederlagen nun die Frage aufwerfen, wie Russlands Präsident Putin darauf reagiert: "Das Problem für den Kreml ist, dass der eigene Handlungsspielraum beschränkt wird. Ziel war zunächst die Absetzung der Regierung in Kiew, dann die Besetzung der Ost-Ukraine. Nun sieht man, dass es auch dafür nicht reicht. Die Frage ist, was nun noch übrig bleibt als Ziel des Angriffskrieges."

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Über die Expertin:
Sarah Pagung arbeitet bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und forscht zu russischer Außen- und Sicherheitspolitik sowie zu Informationspolitik.

Verwendete Quellen:

  • Telefonisches Gespräch mit Sarah Pagung
  • spiegel.de: Diktator unter Druck

London: Prestigeträchtige Panzerarmee Russlands enorm dezimiert

Laut Aussagen der britischen Geheimdienste seien inzwischen wichtige Einheiten der russischen Armee in der Ukraine stark geschwächt. Ein Kurzbericht zeigt auf, dass Russland zu Beginn schwere Verluste hinnehmen musste, von denen sich die Armee wohl nie richtig erholen konnte. (Bildcredit: IMAGO/SNA)
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