Israel steht wegen seiner Kriegsführung in Gaza immer stärker in der Kritik. Doch Ron Prosor, der Botschafter Israels in Deutschland, sagt: "Wir müssen unsere eigene Bevölkerung schützen." Der Terrororganisation ginge es um die Vernichtung des jüdischen Volkes. Hamas-Sympathisanten im Westen machen ihn fassungslos.

Ein Interview

Ron Prosor ist kein Diplomat der leisen Töne. Manche Kritiker würden ihn gar undiplomatisch nennen. Immer wieder mischt sich der 65-jährige Botschafter beherzt in öffentliche Debatten ein, wenn es um sein Heimatland geht: Israel, den einzigen jüdischen Staat auf der Welt. Derzeit muss Prosor wohl mehr diskutieren und erklären als je zuvor in seinem Amt, das er vor fast zwei Jahren übernommen hat.

Mehr aktuelle News

Seit dem 7. Oktober 2023, dem schrecklichen Massaker der Hamas an über 1.000 Menschen, führt Israel Krieg gegen die Terrororganisation im Gazastreifen. Doch die internationale Kritik am Vorgehen des israelischen Militärs wird immer schärfer. Nach unterschiedlichen Schätzungen sind mittlerweile etwa 30.000 Palästinenser tot, darunter viele Zivilisten.

Die Verantwortung für dieses Leid trägt die Terrororganisation Hamas, glaubt Prosor. Er warnt im Interview mit unserer Redaktion davor, Ursache und Wirkung in dem Konflikt zu vertauschen. "Die Ursache sind die Angriffe der Hamas vom 7. Oktober, als Juden wie Vieh abgeschlachtet wurden", sagt er. "Die Wirkung? Israel verteidigt sich."

Am Montag war Jom Haschoa, der Holocaust-Gedenktag, und am Dienstag der Jahrestag der Niederlage des Nationalsozialismus. Hat sich für Sie die Bedeutung dieser Tage vor dem Hintergrund des 7. Oktobers, dem Hamas-Massaker in Israel, verändert?

Nein, die Bedeutung dieser Tage hat sich nicht verändert. Ich glaube aber, dass eine Gleichsetzung der Ereignisse vom 7. Oktober und der Schoa falsch ist. Die Schoa, die Ermordung von sechs Millionen Juden, ist singulär. Aber der Angriff der Hamas hat uns alle etwas gezeigt: Ihre Ideologie ist tödlich. Die Staatsräson der Nazis bestand in der Auslöschung des jüdischen Volkes und die Staatsräson der Hamas ist die gleiche: auch ihr geht es um die Vernichtung des jüdischen Volkes. Hamas hat es so geschrieben, so gesagt und am 7. Oktober wollten sie es in die Tat umsetzen. Daher müssen die Hamas und ihre Ideologie bekämpft werden. Nicht nur mit Erziehung, sondern auch mit Strafen. Die Leute müssen verstehen – auch hier in Europa – dass man heute gegen diese Leute kämpfen muss. Ansonsten werden sie morgen weinen.

Seit sieben Monaten tobt Krieg in Nahost. Am Dienstag hat die israelische Armee den Grenzübergang von Rafah eingenommen. Hat damit die seit Wochen angekündigte Offensive im Süden des Gazastreifens begonnen?

Erstmal, und das ist unheimlich wichtig in den deutschen Medien, dürfen wir Ursache und Wirkung nicht vertauschen. Die Ursache sind die Angriffe der Hamas vom 7. Oktober, als Juden wie Vieh abgeschlachtet wurden. Die Wirkung? Israel verteidigt sich. Vor zwei Tagen hat die Hamas Raketen auf den Grenzübergang Kerem Shalom geschossen, über den humanitäre Hilfe in den Gazastreifen kommt. Dabei sind vier Soldaten getötet worden. Während Israel also Lieferungen nach Gaza schickt, kümmert sich die Hamas kein bisschen um die eigene Bevölkerung. Die Einnahme des Grenzübergangs von Rafah dient der Beseitigung der Hamas-Infrastruktur. Damit wollen wir unserem wichtigsten Ziel, die Geiseln zurück nach Hause zu bringen, näherkommen. Eine Offensive auf die eigentliche Stadt Rafah ist es noch nicht.

Prosors Prognose: "Mit der Hamas kann es keinen Frieden geben"

Die Hamas hat am Montagabend ein Abkommen vorgeschlagen, das in drei Phasen den Krieg beenden soll und unter anderem eine Freilassung aller Geiseln im Austausch gegen palästinensische Gefangene vorsieht. Israel hat das Angebot abgelehnt. Warum?

Das stimmt so nicht. Israel wäre bereit, im Austausch für die Geiseln die schlimmsten Terroristen und Mörder freizulassen - diese Menschen haben Blut an ihren Händen. Aber die Hamas ist nicht bereit zu sagen, wie viele Geiseln sie freilassen will und ob diese noch lebendig sein werden oder bereits tot. Natürlich verlangen sie das Ende des Krieges, aber wir in Israel sagen ganz klar: Wir müssen die Infrastruktur und Führungsriege beseitigen. Vorher können wir nichts anderes aufbauen. Mit der Hamas kann es keinen Frieden geben.

Der Plan der Hamas sieht in der dritten Phase die Freilassung aller Geiseln vor.

Das stimmt einfach nicht. Die Hamas hat es geschafft, dass alle wieder auf Israel als den Schuldigen blicken. Das ist psychologische Kriegsführung - die Hamas spielt nicht nur mit den Gefühlen der Familien der Geiseln, sondern auch mit den Gefühlen aller anderen, die sich um die Geiseln sorgen.

Ich beziehe mich auf einen Bericht der "Times of Israel" über den Vorschlag der Hamas.

Es ist nicht immer alles richtig, was in der Zeitung steht. Was aber stimmt: Wir wollen alle Geiseln zurück nach Hause bringen und dafür sind wir bereit, einen sehr hohen Preis zu bezahlen. Im israelischen Kriegskabinett, dem auch Oppositionspolitiker angehören, sind sich übrigens alle einig, dass dieser Hamas-Vorschlag inakzeptabel ist.

Neben der Befreiung der Geiseln hat Benjamin Netanjahu als zweites Kriegsziel den "totalen Sieg" über die Hamas ausgegeben. Zwischen beidem besteht aber eine Spannung. Muss man in der Praxis nicht ein Ziel priorisieren?

Sie haben völlig recht, hier gibt es eine Spannung. Das bedeutet zum einen, dass unser Militär aus Rücksicht auf die Geiseln nicht einfach frei agieren kann. Der Hamas-Chef in Gaza, Yahya Sinwar, und die anderen Terroristen wissen das. Zum anderen sind wir meines Erachtens bereit, das Ziel der Beseitigung der Hamas-Infrastruktur hintenanzustellen, um es in einer späteren Phase weiter zu verfolgen. Die oberste Priorität haben die Geiseln.

Ron Prosor: "Israel kann es sich nicht leisten, nicht zurückzuschlagen"

Viele Angehörige von Geiseln haben einen anderen Eindruck: Sie glauben, dem militärischen Sieg über die Hamas wird derzeit der Vorrang gegeben. Bisher ist nur durch ein Abkommen mit der Terrororganisation im November eine größere Zahl an Geiseln freigekommen.

Ich kann die Gefühle der Angehörigen sehr gut nachvollziehen. Wenn wir Familienmitglieder in einer solchen Situation in Gaza hätten, würden wir genau dasselbe fühlen und denken. Aber auf der anderen Seite muss die israelische Regierung strategisch vorgehen, damit wir alle Geiseln zusammen nach Hause bringen können.

Vor der anstehenden Offensive in Rafah machen nicht nur Familien von Geiseln Druck, sondern auch die engsten Verbündeten Israels. US-Präsident Joe Biden sprach gar von einer "roten Linie". Ist Israel bereit, seine völlige internationale Isolierung zu riskieren?

Wir nehmen das in Kauf, und nicht zum ersten Mal. Der jüdische Staat wird bedroht - von der Hamas im Süden, der Hisbollah im Norden, dem Iran im Osten und den Huthi im Jemen. Nur als Beispiel: Seit dem 8. Oktober greift die Hisbollah Israel an jedem einzelnen Tag an. Israel kann es sich nicht leisten, nicht zurückzuschlagen. Im Norden des jüdischen Staates gibt es mehr als 80.000 Binnenflüchtlinge. Das darf nicht sein. Von außen ist es einfach, mit einem erhobenen Finger zu sagen, was Israel tun soll oder nicht. Das ist wie bei Samson aus der Bibel, dem man die Haare schneidet, damit er sich nicht verteidigen kann. Bedenken Sie: Die Hamas hat Israelis wie Vieh abgeschlachtet. Wir müssen unsere eigene Bevölkerung schützen – und das werden wir auch machen. Was Israel heute mit den Islamisten erlebt, werden auch die Europäer sehen. Einige von denen, die ihr mit offenen Armen empfangen habt, fordern jetzt ein Kalifat. Das ist doch ein Wahnsinn, der strafbar sein muss. Das sind Trojanische Pferde, die die demokratischen Strukturen und die friedliche Debattenkultur in Deutschland missbrauchen.

Selbst deutsche Spitzenpolitiker kritisieren die israelische Kriegsführung mittlerweile ungewohnt deutlich. Wie nehmen Sie das als Botschafter wahr: Kippt die Stimmung in Deutschland gerade zuungunsten Israels?

Deutschland ist nach den Vereinigten Staaten Israels zweitwichtigster strategischer Partner. Nach dem 7. Oktober hat Kanzler Olaf Scholz klargemacht, dass Israel das Recht und die Pflicht hat, sich selbst zu verteidigen. Seitdem ist die Anzahl der deutschen Staatsbesuche nach Israel in Europa ohne Vergleich. Kanzler Scholz kam zweimal und Außenministerin Baerbock sieben Mal. Sie haben sich die Orte angeschaut, an denen die Hamas gewütet hat. Wenn man das sieht, dann versteht man, warum Israel diese Bedrohung beseitigen muss. Aber je mehr Zeit vergeht, desto mehr wird vergessen, was am 7. Oktober stattgefunden hat. Ich kann das verstehen, wenn man die Bilder aus Gaza sieht, aber die Wahrheit ist: Die Hamas ist verantwortlich für das, was dort jetzt stattfindet. Und die Hamas tötet weiter - das kann doch kein Staat akzeptieren.

Dennoch hielten in einer Umfrage vom März 70 Prozent der befragten Deutschen Israels Vorgehen in Gaza für nicht gerechtfertigt. Wie erklären Sie sich das?

Ich erkläre mir das so, dass die Leute nicht genug von den Ursachen und Wirkungen in diesem Konflikt verstehen. Wie viele der Befragten hätten gewusst, dass sich Israel bereits 2005 komplett aus dem Gazastreifen zurückgezogen hat? Sie hätten das Gebiet in ein Singapur am Mittelmeer entwickeln können, aber sie haben es in einen Terrorstaat verwandelt. Wir wollten keinen Krieg, sondern ein friedliches Zusammenleben. Wir haben 25.000 Palästinensern aus Gaza eine Arbeitsgenehmigung für Israel gegeben. Von diesen waren einige in den Orten, in denen sie gearbeitet haben, an den Massakern der Hamas beteiligt. Sie haben Skizzen angefertigt, damit die Terroristen wissen, wer wo ist. Das können wir nicht vergessen.

Ron Prosor: "Wie kann ein Mitglied der LGBTQ-Community nur die Hamas unterstützen?"

Am Dienstag haben Studierende auf dem Gelände der Freien Universität Berlin ein mittlerweile von der Polizei geräumtes Protestcamp in Solidarität mit den Palästinensern errichtet. Sie werfen Israel einen Genozid vor und fordern unter anderem einen akademischen Boykott des Landes.

Ich habe kein Verständnis für Leute, die die Hamas unterstützen. Verstehen diese jungen Menschen denn nicht, dass die Hamas alles repräsentiert, was wir als freie demokratische Staaten nicht akzeptieren können? Wie kann ein Mitglied der LGBTQ-Community nur die Hamas unterstützen? Die würden nicht eine Stunde unter der Hamas überleben. Wir müssen wirklich aufwachen und begreifen, dass wir zusammenhalten müssen gegen diese Fanatiker, diese Barbaren, die nur Tod, Gewalt und Terror wollen.

Es gibt auch Menschen, die die Hamas nicht unterstützen und trotzdem ihre Kritik an Israel öffentlich kundtun wollen.

Überhaupt kein Problem. Israel kann man kritisieren, genauso wie man das mit Deutschland oder den Vereinigten Staaten tun kann. Unsere schärfsten Kritiker sind wir übrigens selbst. Israelische Streitkultur bedeutet, dass wir uns über fast gar nichts einigen können. Nur darauf, dass wir alle gegen die Hamas und all diejenigen sind, die Israel vernichten wollen.

Seit dem 7. Oktober ist in Deutschland die Zahl der antisemitischen Vorfälle stark angestiegen. Wird das in Israel wahrgenommen?

Ja, ganz klar. Es ist erschreckend, was in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, vor sich geht. Wir haben es sowohl mit islamistischem Antisemitismus als auch mit rechtem und linkem Antisemitismus zu tun. Ob ein Molotow-Cocktail aber von einem Islamisten, einem Linksradikalen oder einem Rechtsradikalen geworfen wird, ist dabei egal, denn das Ergebnis ist gleich: es brennt. Alle drei müssen bekämpft werden. Wir brauchen Haltung. Das muss scharf geahndet werden.

Berlin ist ein beliebtes Reiseziel für Israelis. Doch nach dem 7. Oktober häufen sich dort Fälle, bei denen Menschen angegriffen werden, nur weil sie Hebräisch in der Öffentlichkeit sprechen. Was raten Sie Israelis, die Deutschland besuchen wollen?

Es ist unfassbar, dass auf deutschen Straßen Juden keine Kippa tragen oder Israelis kein Hebräisch sprechen, weil sie Angst haben. Ich rate Israelis dennoch, Deutschland zu besuchen. Die Innenminister und die Polizei tun alles, um die Sicherheit zu gewährleisten. Dafür gebührt ihnen großer Dank.

Über unseren Gesprächspartner

  • Ron Prosor ist 1958 in der israelischen Stadt Kfar Saba geboren. Seine Vorfahren stammen aus Deutschland und flohen 1933 vor den Nationalsozialisten ins britische Mandatsgebiet Palästina, wo später der Staat Israel entstand. Prosor hat jahrzehntelange Erfahrung im diplomatischen Dienst. Er war unter anderem Botschafter in Großbritannien und Ständiger Vertreter Israels bei den Vereinten Nationen. Seit August 2022 ist Prosor Israels Botschafter in Deutschland.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.