Altbundespräsident Joachim Gauck nahm die Klimaaktivisten der Gruppe "Letzte Generation" bei Maybrit Illner gegen zu harte Kritik in Schutz und warnte vor der Gefahr von rechts. ZDF-Mann Claus Kleber fiel durch einen fragwürdigen Iran-Vergleich auf. Und eine Historikerin erklärte, was es mit dem "Extremismus der Normalität" auf sich hat.
Das war das Thema
Ukraine-Krieg, Klimawandel, Preissteigerungen: 2022 war ein Jahr der Krisen. Nicht wenige Menschen zweifeln daran, ob die Politik diese Probleme in den Griff bekommt und ob es Demokratien besser hinbekommen als autoritäre Herrschaftssysteme.
Die wichtigsten Aussagen von Joachim Gauck
Korruptionsskandal in Brüssel: Der Enthüllungen um die mutmaßliche Bestechung der inzwischen abgesetzten Europaparlaments-Vizepräsidentin Eva Kaili bewertet Gauck als "entsetzlich, aber keine Katastrophe". Die Menschen sollten von der Griechin beziehungsweise wenigen schwarzen Schafen nicht automatisch auf das politische Personal in Deutschland schließen und "die Kirche mal im Dorf lassen".
Verunsicherung in die Demokratie: 44 Prozent der Deutschen sind nicht zufrieden mit der Demokratie: Für Gauck hat das mit Angst vor Globalisierung, Technisierung, der Entgrenzung durch die Europäisierung sowie der Klima- und Migrationskrise zu tun. "Sie haben letztlich Angst vor der Moderne." Und Angst sei "immer eine große Zeit für Populisten und eine schwierige Zeit für rationale Politiker", stellte er fest.
Politischer Extremismus: "Ganz eindeutig" stehe der größte Feind der Demokratie derzeit rechts, so Gauck. Angst vor der Reichsbürger-Gruppierung, die zuletzt über einen Putsch nachgedacht hatte und festgenommen wurde, hat Gauck aber nicht. "Wir haben eine überaus stabile Mitte in Deutschland." Von Klimaaktivisten wie der Gruppe "Letzte Generation" gehe ganz klar "keine Gefahr für die Gesellschaft" aus, auch wenn er ihre Mittel kritisierte, so Gauck. Zur CSU-Kritik, es handele sich um eine "Klima-RAF", sagte er: "Da wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen."
Krieg in der Ukraine: "Ich kann nicht hoffnungslos sein", sagte Gauck zur wohl größten politischen Krise der Gegenwart. "Putin wird sich verrechnen." Bundeskanzler
Das haben die anderen Gäste gesagt
Sarah-Lee Heinrich: Die Bundesvorsitzende der Grünen-Jugend äußerte Verständnis für die Klimaaktivisten. Es seien "junge Leute, die verzweifelt sind", die Angst vor Dürren, Hunger und Kriegen hätten. Die explodierenden Lebenserhaltungskosten machen sie auch persönlich betroffen. Viele ihrer Freunde kommen derzeit mehr schlecht als recht über die Runden. Schließlich übte Heinrich scharfe Kritik an CDU-Chef Friedrich Merz, der Flüchtlingen aus der Ukraine zum Teil "Sozialtourismus" vorgeworfen hatte. Die Aussage sei "sehr, sehr unpassend" und
Hedwig Richter: Die Historikerin warnte davor, die Reichsbürger zu unterschätzen und äußerte wie die anderen Gäste Sympathie für die oft jugendlichen Klimaaktivisten. Die Heftigkeit ihrer Proteste hätte damit zu tun, "dass man den Extremismus der Normalität überschreit". Soll heißen: Häufig werde von Politik und Gesellschaft so getan, als sei das radikale Vorgehen der "Letzten Generation" das Problem und nicht die Zerstörung der Natur durch unser alltägliches Leben.
Das war der Moment des Abends
Wie Joachim Gauck, der frühere Pastor, sich zur Notwendigkeit von mehr Zuwanderung äußerte, hatte etwas von Stand-up-Comedy: "Ist der deutsche Mensch denn überhaupt noch imstande, Erdbeeren zu pflücken und Spargel zu stechen?", fragte Gauck und lieferte sogleich die Antwort. "Nein, der deutsche Mensch hat Rücken. Er kann das nicht mehr. Oder ist der deutsche Mensch noch imstande, die Eltern und Großeltern zu pflegen? Nein, er kann es nicht. Wir brauchen Zuzug."
So hat sich Maybrit Illner geschlagen
Ein starker Auftritt der Gastgeberin, die vor allem beim Interview mit Gauck, das vor der Live-Sendung aufgenommen wurde, ihre Stärken ausspielte: dem Gegenüber Raum geben, die eigenen Gedanken zu entfalten, aber an passenden Stellen auch mal dazwischen gehen. Als Gauck auf die fragwürdigen Mittel der "Letzten Generation" verwies, punktete Illner mit dem Hinweis, dass der Klimaschutz inzwischen ja sogar in der Verfassung stehe. Eine Erklärung für das vehemente Auftreten der Gruppierung, die durch zahlreiche spektakuläre Anklebe-Aktionen im öffentlichen Raum von sich Reden gemacht hat.
Später verließ die Moderatorin ihre neutrale Vermittlerposition, als es um die AfD ging. "Die haben noch nicht regiert - zum Glück", sagte sie über die Partei, von der Teile vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuft werden.
Das ist das Fazit
ZDF-Mann Claus Kleber versuchte aus dem Krisenjahr auch ein paar positive Dinge zu ziehen. Er sieht in der Umverteilung der deutschen Industriebeziehungen - weg von Russland, vielleicht auch ein Stück weit weg von China - eine Chance. Die Jagd nach dem billigsten Anbieter milderte sich ab. "Das könnte auf Dauer eine gute Sache sein." Auch Historikerin Hedwig Richter sieht in den abgeschwächten Beziehungen zu Russland eine Chance für eine künftige mehr wertegeleitete Außenpolitik. In den Augen von Kleber hätten die weggebrochenen Gaslieferungen aus Russland einen enormen Schub für die erneuerbaren Energien bewirkt - auch wenn der Staat kurzfristig noch mehr auf die "Fossilen" setzt.
In der Ukraine sei Frieden nur möglich, glaubt Kleber, wenn die russischen Truppen das ukrainische Territorium verlassen. Er ist gegen einen "Waffenstillstand von Moskaus Gnaden". Eine kurz- bis mittelfristige Verhandlungslösung ist, folgt man Kleber, sehr unwahrscheinlich. Im Übrigen zeigt sich der USA-Experte überzeugt, dass die Amerikaner in der Ukraine für die Europäer "zum letzten Mal die Kastanien aus dem Feuer geholt haben".
Kleber ist sich sicher, dass die schwerwiegendste Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine nicht höhere Energiepreise sind, sondern dass die alte Nachkriegsordnung weggebrochen sei. Die große Frage für die Zukunft, die dadurch aufgeworfen wurde: Wird sich unser Modell der Demokratie gegen autoritäre Systeme durchsetzen, die wieder Länder überfallen? Eine Frage, die Maybrit Illner mit ihren Gästen am letzten Talkabend des Jahres nicht beantworten konnte.
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