Mehr Mitsprache der Bürger und ein Ampelsystem zur Einschätzung der Lage: Die Gäste von Anne Will machen Vorschläge für die kommenden Corona-Monate. Und der Weltärztepräsident räumt ein: "Ich habe mich geirrt."

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"Ein halbes Jahr Coronakrise", lautet am Sonntagabend das Thema der Talksendung von Anne Will. Glücklicherweise schaut die Moderatorin mit ihren Gästen nicht etwa nur zurück – sondern sie richtet den Blick nach vorne auf die kommenden Monate: Was haben wir gelernt? Und wie sollte Deutschland mit der Pandemie umgehen, jetzt wo die Infektionszahlen wieder steigen?

Wer sind die Gäste bei "Anne Will"?

Malu Dreyer: Die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz verteidigt das zum Teil unterschiedliche Vorgehen der Bundesländer: Es sei richtig gewesen, die Corona-Maßnahmen an das Infektionsgeschehen in den Regionen anzupassen. "Ich bin eigentlich der Meinung, dass wir die Lage ziemlich gut im Griff haben", sagt die SPD-Politikerin.

Frank Ulrich Montgomery: Der Vorsitzende des Weltärztebundes fordert dagegen mehr Einheitlichkeit in der Pandemie-Bekämpfung: "Wir müssen bundeseinheitlich sagen, was wann wie geschehen muss." Publikum bei Bundesliga-Fußballspielen bereits wieder zuzulassen, hält er für keine gute Idee: "Ich glaube, dass wir uns das noch nicht leisten können."

Hendrik Streeck: "Wir müssen ausprobieren, wir müssen trial and error machen, was geht", sagt der Professor für Virologie an der Universität Bonn. Er bedauert zum Beispiel, dass in Düsseldorf ein Großkonzert mit 13.000 Zuschauern abgesagt wurde. Er hätte es besser gefunden, das Konzert unter Hygienebedingungen stattfinden zu lassen – und die Besucher danach zu testen.

Marina Weisband: Die Autorin wirbt dafür, Betroffene einzubeziehen, wenn die Politik Beschränkungen oder Lockerungen beschließt. Die frühere Politikerin der Piratenpartei schlägt zum Beispiel "zufällig geloste Bürger*innen-räte" vor, in denen Menschen über Maßnahmen mitentscheiden. "Je mehr wir Menschen zutrauen, desto verantwortungsbewusster handeln sie."

Ranga Yogeshwar: Der Wissenschaftsjournalist glaubt, dass die erfolgreiche Pandemie-Bekämpfung in Deutschland viele Menschen in falscher Sicherheit wiege. Das Land habe bei den Infektionszahlen großes Glück gehabt. "Das führt zu einem Gefühl, bei dem die meisten Menschen nicht unmittelbar in ihrem Freundeskreis jemanden kennen, der gestorben oder erkrankt ist."

Was ist der Moment des Abends?

Es ist eine positive Folge der Corona-Pandemie, dass Menschen in der Öffentlichkeit auch einmal Fehler eingestehen. Ein Beispiel dafür liefert Frank Ulrich Montgomery: Der hatte es vor ein paar Monaten noch heftig kritisiert, dass Menschen in Geschäften Alltagsmasken tragen müssen. So ein "feuchter Lappen" vor dem Gesicht würde gar nichts bringen.

Inzwischen hat auch ein Weltärztepräsident dazugelernt: Die "Lappen" schützen ihre Träger zwar vielleicht nur zum Teil – dafür aber die Menschen um sie herum. "Ich habe mich geirrt", räumt Montgomery ein. In Talkshows, wo eigentlich alle immer nur recht haben wollen, ist das ein selten zu hörender und wohltuender Satz.

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Was ist das Rededuell des Abends bei "Anne Will"?

Gestritten wird an diesem Abend nicht. Allerdings kommt es zu einer Diskussion über das Für und Wider der sogenannten "Ampel". Virologe Hendrik Streeck plädiert für ein Ampelsystem, das den Menschen täglich einen anschaulichen Blick auf das Infektionsgeschehen bietet. Ministerpräsidentin Malu Dreyer sagt daraufhin, sie sei eine "absolute Befürworterin" einer Ampel. Auch Marina Weisband signalisiert Zustimmung.

Grundsätzlich könnte sich das auch Ranga Yogeshwar vorstellen, doch der Moderator meldet trotzdem Bedenken an: Die Ampel sei "schön und gut". Das größte Problem besteht seiner Meinung aber darin, dass ein Teil der Bevölkerung gar nicht an die Existenz des Virus glaubt oder zumindest die Maßnahmen zu seiner Eindämmung vehement ablehnt.

Soziale Medien würden über die Verbreitung von Falschmeldungen noch dazu beitragen, dass die Gesellschaft bei diesem Thema "zerrissen wird". Solche Menschen werde man mit einer Corona-Ampel gar nicht mehr erreichen, glaubt Yogeshwar. "Die Basis der Ampel muss Vertrauen sein. Wenn das Vertrauen aber zerrüttet wird, dann glauben die Leute der Ampel nicht."

Was ist das Ergebnis?

Unterschiedliche Meinungen stehen in dieser Sendung nicht im Mittelpunkt. Wer auf engagierte Diskussionen gehofft hat, wird daher enttäuscht. Stattdessen gehen die Gäste allerdings sehr konstruktiv auf Lösungssuche. Der Vorschlag von Marina Weisband, die Bevölkerung stärker in die Maßnahmen einzubeziehen, ist sicherlich richtig. Wie genau das aussehen könnte – darauf geht die Runde dann aber leider nicht mehr ein.

Ranga Yogeshwar macht deutlich, was auf Deutschland in den nächsten Monaten zukommt: "Wir haben Corona bisher erlebt in einem wunderschönen Frühjahr und einem sonnigen Sommer." Die Menschen konnten also an die frische Luft gehen, in Schulen und anderen Gebäuden konnten die Fenster zum Lüften aufgerissen werden. Wie aber soll das im Winter weitergehen? "Die eigentliche Hürde kommt jetzt, wenn es kälter wird", sagt Yogeshwar. Neue Ideen und Lösungen sind also weiterhin gefragt – auch nach einem halben Jahr Corona-Pandemie.

Was die Runde ebenfalls betont: Die Politik und die Wissenschaft müssen besser kommunizieren, was sie machen – und warum. Das ist sicherlich ein wichtiges Ziel. Leider beherzigen es die Gäste selbst aber noch nicht so richtig. Die Idee der Corona-Ampel erklären sie zum Beispiel nur unzureichend. Wer könnte entscheiden, ob diese Ampel auf Grün, Gelb oder Rot steht? Wo könnte man sie zu sehen bekommen? Würde sie für die Ebene der Gemeinde, Kreise oder Bundesländer gelten?

Wenn man dieses Konzept schon bespricht, wäre hier mehr Aufklärung angebracht gewesen. Denn wie gesagt: Kommunikation spielt eine zentrale Rolle, wenn die Menschen auch weiterhin mit großer Mehrheit hinter der Pandemiebekämpfung stehen sollen.

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