Seit dem 7. Oktober 2023 herrscht Krieg im Nahen Osten. Ein Ende ist nicht in Sicht. Trotzdem drängen radikale israelische Siedler bereits jetzt auf eine Wiederbesiedlung des Gaza-Streifens – ohne Palästinenser.

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Der Gaza-Streifen liegt in Trümmern, der Konflikt weitet sich aus und zahlreiche Jüdinnen und Juden sind noch immer in Geiselhaft. Seit dem 7. Oktober 2023, dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel, erlebt der Nahe Osten eine Auseinandersetzung, in der es um die Zukunft des palästinensischen Volkes geht – und um die Existenz des einzigen jüdischen Staates. Das zentrale Versprechen, eine Schutzmacht für Jüdinnen und Juden zu sein, wurde an diesem 7. Oktober gebrochen. Der größte Verlust an jüdischem Leben seit dem Holocaust hat die israelische Gesellschaft traumatisiert.

Im Schatten des Gaza-Krieges nutzt eine kleine, aber mächtige Bewegung die Verunsicherung aus. Radikale israelische Siedler drängen darauf, den Gaza-Streifen zu besiedeln. Während die Gesellschaft um die verbliebenen Geiseln und die Sicherheit ihres Landes bangt, sehen sie die Chance gekommen, Fakten zu schaffen. Das beobachtet Israel-Experte Stephan Vopel von der Bertelsmann Stiftung. "Radikale Siedlerinnen und Siedler planen seit dem 7. Oktober die Rückkehr in den Gaza-Streifen."

Radikale Siedler drängen zunehmend auf Rückkehr in den Gaza-Streifen

Dieser Traum ist nicht neu. Ab den 1970er-Jahren bis 2005 existierten im Gaza-Streifen 21 jüdische Siedlungen. Der damalige israelische Premierminister Ariel Sharon beendete die völkerrechtswidrige Besiedelung.

"Der Gaza-Streifen war für die Siedlungsbewegung ideologisch viel weniger bedeutsam als das Westjordanland", sagt dazu Nahost-Experte Jan Busse von der Universität der Bundeswehr. Die israelische Präsenz von Siedlungen und Militär sei nur mit hohem Aufwand und hohen Kosten zu sichern gewesen.

Statt Gaza wollte man sich auf das besser an Jerusalem angebundene Westjordanland konzentrieren – und den Siedlungsausbau dort vorantreiben. Viele der einstigen Siedler empfinden das bis heute als Unrecht.

Siedlungspolitik als Zankapfel zwischen Israelis und Palästinensern

Die israelische Siedlungspolitik war bis zum 7. Oktober einer der großen Konfliktherde zwischen Israel und Palästina. 1967 eroberte Israel im Sechstage-Krieg das Westjordanland, das zuvor wiederum 1948 von Jordanien erobert und 1950 annektiert worden war, den Gaza-Streifen und Ost-Jerusalem. Israel begründet seinen Siedlungsbau mit Sicherheitsinteressen, also dem Schutz vor Angriffen.

Teile der Siedlungsbewegung sind jedoch ideologisch und religiös motiviert, sie betrachten die Gebiete als israelisch. Andere bewohnen die Regionen aufgrund günstiger Immobilienpreise. Der Anteil der Siedlerinnen und Siedler in der jüdischen Bevölkerung liegt laut Jan Busse bei rund zehn Prozent.

Wissenschaftler Peter Lintl von der Stiftung Wissenschaft und Politik analysierte 2023 in seinem Paper, dass unter der rechtsgerichteten Koalition von Benjamin Netanjahu der Siedlungsausbau massiv vorangetrieben wurde: "Innerhalb der Rechten gibt es einen Konsens darüber, dass nur das jüdische Volk einen historischen Anspruch auf das Westjordanland hat, dass sich Israel nicht mehr daraus zurückziehen wird und dass es einen palästinensischen Staat zwischen Jordan und Mittelmeer nicht geben kann."

Diese Bestrebungen hatten sich bis zum 7. Oktober auf das Westjordanland beschränkt. Eine Rückkehr nach Gaza erschien auch aus Sicherheitsgründen unmöglich. Das bestätigt Stephan Vopel: "Die Idee einer Wiederbesiedlung Gazas ist eine neue Entwicklung. Bis zum 7. Oktober war Gaza kaum mehr im Zentrum israelischer Siedlungsbestrebungen." Seitdem stelle sich für Israel die Frage nach einer künftigen Präsenz in Gaza – und nach der Form dieser Präsenz.

Siedlerbewegung: Minderheit hat Rückhalt in Teilen der Regierung

Als einer der Ersten schlug Bildungsminister Yoav Kisch eine Wiederbesiedlung vor, wie die israelische Tageszeitung "Haaretz" berichtet. Anfang des Jahres fand in Jerusalem zudem eine "Konferenz des Sieges“ für die Rückkehr statt. Tausende nahmen teil, unter ihnen Mitglieder der israelischen Regierung wie der rechtsextreme Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir. Das palästinensische Außenministerium bezeichnete die Zusammenkunft als ein "Treffen kolonialistischer Terrororganisationen". Auch innerhalb der Regierung gab es Kritik. Gadi Eisenkot, damaliges Mitglied des Kriegskabinetts, warf den Teilnehmerinnen und Teilnehmern laut "The Jerusalem Post" vor, die gesellschaftliche Spaltung in Israel zu verschärfen.

Ein kürzlich ausgerichtetes Festival von Siedlerinnen und Siedlern, wenige Kilometer entfernt von Gaza, zeichnet ein ähnliches Bild. Mehrere rechtsextreme Kabinettsmitglieder und Mitglieder von Netanjahus Likud-Partei nahmen teil. Der "Spiegel" beschreibt Szenen vor Ort, zitiert einen der etwa 300 Siedler. Er träumt von einem neuen Gaza: "Eine wunderschöne, moderne Stadt, innerhalb der Grenzen von Israel. Menschen aus allen Teilen der israelischen Gesellschaft werden dort leben, linke, rechte, religiöse und säkulare, auch arabische Israelis. Jeder wäre in unserer wundervollen Stadt willkommen." Wen er nicht erwähnt: Die Menschen, die momentan in Gaza leben.

Dass sich hochrangige Politiker mit solch extremen Ideen solidarisieren, zeigt, wie stark der Rückhalt dieser Minderheit in Teilen der Regierung ist. Das sagt auch Jan Busse: "Die Siedlerbewegung ist politisch extrem einflussreich. Seit Dezember 2022 sind Vertreter der militanten Siedlerbewegung zudem erstmalig in der israelischen Regierung vertreten." Netanjahu selbst äußerte sich zu einer Wiederbesiedlung bislang nicht eindeutig. "Er weiß, dass eine erneute Besiedlung des Gaza-Streifens international extrem unpopulär ist. Aber die Siedlerbewegung ist ein zentraler Bestandteil der derzeitigen Regierung. Sie kann großen Druck auf Netanjahu ausüben, weil seine Regierung ihre Mehrheit verlieren würde, sollten die Siedler-Parteien sich aus der Koalition zurückziehen", erklärt Busse weiter.

Die israelische Gesellschaft selbst ist gespalten. Eine Umfrage des "Pew Research Center" Ende Mai ergab, dass sich 40 Prozent für eine israelische Kontrolle des Gaza-Streifens nach Kriegsende aussprechen. Das ist viel, aber nicht die Mehrheit. 14 Prozent wollen, dass die Menschen selbst entscheiden, wer sie regieren soll, andere wünschen sich eine Regierung der Palästinensischen Autonomiebehörde. "Noch vor dem 7. Oktober hätte der Großteil der israelischen Gesellschaft mit Widerstand auf die Pläne einer Wiederbesiedlung des Gaza-Streifens reagiert", ist Soziologe Vopel überzeugt. Aber zur Wahrheit gehöre eben auch, dass die Menschen momentan vor allem mit dem Verbleib der Geiseln und der Sicherheit des Landes beschäftigt seien.

Besorgnis wegen Übergriffen im Westjordanland

Trotz dieser beunruhigenden Entwicklungen im Gaza-Streifen sorgt sich Vopel mehr um das Westjordanland. Dort kommt es seit dem 7. Oktober zu immer krasseren Übergriffen radikaler israelischer Siedler auf die palästinensische Bevölkerung. So gehen regelmäßig etwa laut "Tagesschau" Aufnahmen um die Welt, auf denen zu sehen ist, wie diese Lastwagen mit dringend benötigten Hilfslieferungen nach Gaza aufhalten. Menschen wie Alice Kisiya wurden von ihren Grundstücken vertrieben, ihre Häuser abgerissen. Auf ihrem Instagram-Account kämpft die 30-Jährige lautstark für eine Rückkehr. "Seit dem 7. Oktober ist auch hier der Alltag unberechenbar geworden“, sagte sie kürzlich der "taz".

Kisiya gehört der Minderheit der palästinensischen Christen an, die größtenteils rund um die Heiligen Stätten lebt, vor allem in und um Jerusalem. Eine begehrte und strategisch wichtige Region. Auch das Land der Familie Nassar in der Nähe von Bethlehem wurde beansprucht. "Das ist alles mein Land, bis zum Tal. Aber ich kann mich dem nicht nähern", sagte Amal Nassar Ende April der "Tagesschau". "Sie richten eine Waffe auf mich. Sie sagen, das ist eine Militärstraße, sie dient der Sicherheit, ich darf hier nicht sein. Ich will aber auf meinem Land arbeiten." Auch sie erzählte, dass sich die Lage seit dem 7. Oktober zunehmend verschärft hat.

Palästinenser in Gaza: "Jeder Tag ist ein Kampf"

Die kalte Jahreszeit verschärft die ohnehin schon prekäre Lage der Palästinenser im Gazastreifen. Viele Menschen haben wegen der israelischen Angriffe ihr Dach über dem Kopf verloren und leben in Behelfsunterkünften. Es fehlt an fast allem - unter anderem an Nahrung und Decken.

Schleichende Wiederbesiedlung im Schatten des Krieges möglich

Die Verstöße gegen palästinensische Bewohnerinnen und Bewohner im Westjordanland sind mitunter so schwer, dass der Europäische Rat Sanktionen gegen extremistische Siedlerinnen und Siedler verhängt. Ein Siedler etwa wurde am 15. Juli 2024 für seine Gewalttaten gegenüber den Palästinensern, die als Viehhirten in der Nähe seines Vorpostens im Westjordanland leben, auf die EU-Sanktionsliste aufgenommen.

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Für Vopel sind das beunruhigende Entwicklungen der israelischen Landbesetzung. Denn sie treffen auf bereits bestehende Strukturen. In Gaza hingegen tobe der Krieg, der internationale Druck gegen Siedlungsbestrebungen wäre groß und der militärische Aufwand zur Sicherung weniger Siedlerinnen und Siedler immens.

Zudem habe der 7. Oktober bewiesen, was passiere, wenn das israelische Militär mit großem Aufwand in einer Region gebunden sei. Denn während des Massakers der Hamas fehlten wichtige Armeeeinheiten zur Verteidigung, die zu diesem Zeitpunkt im Westjordanland stationiert waren. Eine Wiederbesiedlung des Gaza-Streifens sieht der Experte daher als unrealistisch an. Jan Busse äußert sich ähnlich: "Die Siedlungs-Bewegung verursacht sehr hohe materielle Kosten und schadet international dem israelischen Ansehen, da der Transfer der eigenen Bevölkerung in ein besetztes Gebiet einen Völkerrechtsbruch darstellt."

Was im weiteren Kriegsverlauf hingegen nicht ausgeschlossen werden kann: die Entstehung von Strukturen einer israelischen Militärverwaltung im Gaza-Streifen. In deren Schatten könnte eine schleichende und illegale Wiederbesiedlung stattfinden - um so möglicherweise Fakten zu schaffen.

Über die Gesprächspartner

  • Stephan Vopel ist Leiter des Berliner Büros der Bertelsmann Stiftung. Er studierte Soziologie und Geschichte in Jerusalem und Bielefeld und hat viele Jahre in Israel gelebt. Seine Schwerpunkte sind unter anderem die deutsch-israelischen Beziehungen.
  • Dr. Jan Busse ist Nahost-Experte und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München.

Verwendete Quellen

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