• Die einrichtungsbezogene Impfpflicht soll in Bayern erstmal doch nicht kommen.
  • Das hat Ministerpräsident Markus Söder am vergangenen Montag verkündet.
  • Woher kommt der Schritt? Zwei Politikwissenschaftler haben Antworten.

Mehr aktuelle News finden Sie hier

Bayern geht einen eigenen Weg: Die längst beschlossene Impfpflicht für Beschäftigte im Gesundheitswesen fällt. "Die einrichtungsbezogene Impfpflicht, die zum 15.März kommen soll, ist kein wirksames Mittel mehr, um die Omikron-Welle zu begleiten oder zu dämpfen oder zu stoppen", sagt Ministerpräsident Markus Söder (CSU) am Montag.

"Sie kann aber leider ein Instrument sein, um die Belastungs- und Pflegesituation deutlich zu verschlechtern", so der CSU-Politiker weiter. Deswegen werde der Vollzug übergangsweise ausgesetzt – für wie lange bleibt unklar. "Zunächst für einige Zeit, um das Ganze vernünftig zu gestalten", sagte Söder.

Hat Markus Söder das "Team Vorsicht" verlassen?

Auch in anderen Bereichen scheint Söder das "Team Vorsicht" verlassen zu haben. Das bayerische Kabinett hat jedenfalls Lockerungen angekündigt: Die Sperrstunde um 22:00 Uhr in der Gastronomie wurde aufgehoben, beim Friseur soll wieder "3G" gelten und Stadionbesuche mit 15.000 Zuschauer kein Problem mehr sein.

Dabei liegt Bayern (73,4 Prozent) laut der Statistik in Sachen Impfquote unter dem Bundesdurchschnitt (74,5 Prozent). Bremen und das Saarland haben gleichzeitig bereits Quoten von über 80 Prozent erreicht.

Auch im Intensivbettenregister gehört Bayern zu den Bundesländern, in denen weniger als 15 Prozent der Betten verfügbar sind. Schlechter ist die Situation nur in Hessen, Bremen, Berlin und Nordrhein-Westfalen.

"Wir waren vorsichtig, als Vorsicht gefragt war und wir sind jetzt vorsichtig optimistisch, wenn Optimismus gefragt ist", erklärte CSU-Generalsekretär Markus Blume am Montagabend bei "Hart aber Fair". Die Omikron-Welle sei nicht mit der Delta-Welle vergleichbar. "Wir würde es als Fehler erachten, zu sagen: Wir machen einfach weiter so", so Blume.

Politikwissenschaftler Thomas König glaubt, dass weitere Gründe hinter dem Schritt Söders stecken. "Sicherlich möchte Söder erneut die mediale Meinungsführerschaft erneut einnehmen, nun eben beim Thema Lockerungen", sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion.

In zwei Jahren Pandemie habe man es leider nicht geschafft, ein auf Evidenz basierendes Krisenmanagement aufzubauen. "Deshalb erleben wir immer wieder ein Hin und Her im Krisenmanagement, das sich fast ausschließlich an den immer weniger aussagekräftigen Zahlen zur Inzidenz und etwaigen Virusvarianten orientiert, während es über die Gründe der Ausbreitung und die Wirkung von Maßnahmen zu viel Interpretations- und Spekulationsraum gibt“, so der Experte.

Das, was Söder nämlich aktuell vorschlage, sei erneut Spekulation, oftmals mit Blick auf das aktuelle Meinungsbild in der Bevölkerung. "Die Frage ist leider offen, ob sich durch die Impfpflicht mehr Menschen impfen lassen oder ob die Gegnerschaft dadurch Zulauf bekommt", erklärt König.

Außerdem sei weiterhin unklar, wie die berufsspezifische Impfpflicht implementiert werden solle und ob es zu arbeitsgerichtlichen Prozessen und Entlassungen komme.

Corona-Kurswechsel: Rolle der Landtagswahlen in Bayern

"Durch Entlassungen könnte es auf der einen Seite zu einem Personalmangel kommen. Auf der anderen Seite bedeutet die Aussetzung der Pflicht, dass diejenigen, die sich eventuell noch hätten impfen lassen, nun keinen Druck mehr verspüren", analysiert der Experte.

In der Spekulation über diese beiden Parameter habe man sich in Bayern anscheinend dafür entschieden, den ersten höher einzustufen.

Zwar betonen alle Politiker immer wieder, dass ihre Sicht der Maßnahmen nur der Pandemiebekämpfung diene. "Aber in Bayern stehen Landtagswahlen an, der Wahlkampf beginnt langsam", sagt König.

Die Wahl zum 19. Landtag in Bayern findet voraussichtlich im Herbst 2023 statt. "Eine Impfpflicht könnte insbesondere die Freien Wähler stärken", sagt der Politikwissenschaftler.

Auch die Persönlichkeit Söders hält König bei dem jetzigen Schritt für ausschlaggebend. "Söder stellt sich gerne an die Spitze eines Trends – egal, ob "Team Vorsicht" oder "Team Öffnung".

Wenn er über den sogenannten "first mover advantage" - in der Wirtschaft ist damit der Vorteil desjenigen gemeint, der als Erster mit einem neuen Produkt am Markt erscheint - die mediale Aufmerksamkeit bekomme, steige seine Popularität, erinnert der Experte.

"In Teilen des bayerischen Gesundheitssektors dürfte seine Ankündigung zudem Erleichterung auslösen, denn man erspart sich nicht nur bürokratischen Aufwand und Kündigungen, sondern könnte vielleicht auch Personal im Pflege- und Krankenhausbereich hinzugewinnen, das andernorts wegen der Impfpflicht abwandert", ergänzt König.

Politik handelt oft zu spät

Das Defizit eines evidenzbasierten Krisenmanagements hält König wegen der andauernden Spekulationen über Maßnahmen und Entwicklungen für fatal. "Wir könnten viel mehr Informationen und Wissen über die Wirkung von Maßnahmen und das Verhalten der Bevölkerung haben, anstatt den Spekulationen freien Lauf zu lassen“, betont er.

Denn dadurch handele das Krisenmanagement oftmals zu spät, zu inkonsistent und verwirre die Bevölkerung. "Seit Jahrzehnten führen wir repräsentative Bevölkerungsumfragen in allen Bereichen des Lebens mit sehr hohen Vorhersagekraft durch – etwa beim Wahl-, aber auch beim Konsumentenverhalten durch", erinnert er.

Es sei erstaunlich, dass die Politik sich dem virologischen Paradigma verschreibe, mit aller Kraft und Ressourcen alle Infektionen erfassen zu wollen, obwohl man wisse, dass dies sowieso nur unzureichend möglich sei. "Eine ausreichend große repräsentative Zufallsstichprobe könnte nicht nur besser Auskunft über Infektionen und Impfstatus, sondern auch Einstellungen und Verhalten zu Maßnahmen sowie Veränderungen im Zeitverlauf erfassen", sagt König.

Auch aus Sicht von Politikwissenschaftler Gero Neugebauer spielen bei Söders "Wendehals" eine Reihe an Faktoren eine Rolle: "Imagepflege, Umfragen, Wahltermine, innerparteiliche Bedürfnisse bei der CSU und die Positionierung im Verhältnis zur CDU", führt er im Gespräch mit unserer Redaktion an.

Fast scheine es, dass der Wandel für Söder das Beständige sei - "und er sein Fixpunkt", so Neugebauer.

Schaden für die ganze Partei

Mit Blick auf Söders Rolle als Parteivorsitzender sagt Neugebauer: "Seine wichtigste Funktion, eine Partei zu integrieren und sie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren, wird durch Söders Art, Politik zu kommunizieren, missachtet".

Die Parteimitglieder hätten entweder Schwierigkeiten, aktiv die Positionen der CSU in der Öffentlichkeit zu vertreten oder müssten die Reaktionen dieser Öffentlichkeit erdulden. "Das eine wie das andere schädigt das Ansehen der Partei - und letztlich Söder selbst", urteilt Neugebauer.

Verwendete Quellen:

  • DIVI-Intensivregister: Anteil der freien Betten an Gesamtzahl der Intensivbetten (Stand 08.02.2022)
  • Robert Koch-Institut: Impfquote gegen das Coronavirus (COVID-19) in Deutschland nach Bundesländern (Stand 08.02.2022)
  • ARD: Sendung "Hart aber Fair" vom 07.02.2022
  • Interview mit Thomas König
  • Interview mit Gero Neugebauer
Über die Experten:
Prof. Dr. Thomas König ist Politikwissenschaftler an der Universität Mannheim. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die europäische Integration, Parteiendemokratie und Polarisierung im internationalen Vergleich. König ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und Leiter eines Sonderforschungsbereichs der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Dr. Gero Neugebauer ist Politikwissenschaftler am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Er studierte Sozial- und Politikwissenschaften in Hamburg und Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählt die Parteienforschung in Deutschland.

"Tiefe Lehren gezogen": Söder will neue Corona-Strategie verfolgen

CSU-Chef Markus Söder hat ein Umdenken bei der Corona-Politik gefordert. Aus den letzten zwei Jahren habe er "tiefe Lehren gezogen".
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.