• In Nordrhein-Westfalen leben deutschlandweit besonders viele von Armut betroffene oder bedrohte Menschen.
  • Trotz verschiedener Regierungskoalitionen und staatlichen Programmen ändert sich daran seit Jahren kaum etwas.
  • Vor der Landtagswahl fordern Sozialverbände deshalb, dass die kommende Regierung effektive Maßnahmen in Angriff nimmt.

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Wenn es um Armut in Deutschland geht, geht es statistisch gesehen immer auch um das bevölkerungsreichste Bundesland: Nordrhein-Westfalen. Eine Anfrage der Bundestagsfraktion der Linken zum Thema Rente und Altersarmut zeigte Ende März einmal mehr, warum: NRW ist das Flächenland (im Unterschied zu den Stadtstaaten) mit der höchsten Mindestsicherungsquote, also dem Anteil an Menschen, die Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld II ("Hartz IV"), die Grundsicherung im Alter oder Leistungen nach dem Asylbewerbergesetz beziehen.

Laut des unter anderem vom Statistischen Bundesamt herausgegebenen "Datenreport 2021" fiel Ende 2019 mehr als jede zehnte Person in diese Kategorie. Die Folgen der Corona-Pandemie haben die Ungleichheit in Deutschland Fachleuten zufolge weiter verschärft. Wenn es um Kinder- und Altersarmut oder wirtschaftliche "Strukturschwäche" geht, fallen immer wieder die Namen von nordrhein-westfälischen Regionen. Gelsenkirchen beispielsweise gilt als "die ärmste Stadt Deutschlands" mit Blick auf die Summe, die Menschen dort pro Kopf und Jahr im Schnitt zur Verfügung steht.

Ein wenig bekanntes Phänomen: verdeckte Armut

"Hohe Arbeitslosigkeit, hohe Schulden und viele Armutszuwanderer aus Osteuropa machen [der Stadt] seit Jahren zu schaffen", hieß es etwa in einer WDR-Doku. Diese Analyse trifft auch auf andere Gegenden in NRW zu, laut Sozialverband VdK hat die Armut landesweit seit 2005 "fast kontinuierlich zugenommen". Er fordert von der kommenden Landesregierung deswegen unter anderem "landesweite Infokampagnen zur Reduzierung der hohen Dunkelziffer der Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen".

Dabei geht es um sogenannte verdeckte Armut, die auch die Bundesregierung in ihrem nächsten Armuts- und Reichtumsbericht berücksichtigen will: Viele Menschen, die Anspruch etwa auf die Grundsicherung im Alter hätten, beziehen sie nicht – etwa, weil sie sich schämen, gar nicht davon wissen oder entsprechende Formulare zu unverständlich finden.

Offiziellen Zahlen zufolge lebten 2019 17 Prozent der Menschen in Nordrhein-Westfalen in einem Haushalt, dessen Einkommen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle lag. Diese beläuft sich auf 60 Prozent des Medianeinkommens, das heißt des Einkommens, bei dem jeweils 50 Prozent der anderen Einkommen höher beziehungsweise niedriger sind. 2020 waren das 1.121 Euro pro Monat. Die Caritas NRW wies im März darüber hinaus darauf hin, dass Millionen von Menschen in Deutschland inzwischen das Angebot der Tafeln in Anspruch nehmen müssten, um Lebensmittel zu erhalten. Zwischen 2004 und 2021 habe sich die Zahl der Tafeln auf mehr als 950 circa verdreifacht, dazu würden etwa 600 Lebensmittelausgaben kommen, die nicht zum Tafel-Dachverband gehören.

Ungleichheit: Auch Landesregierung sieht chronisches Problem

Neben sogenannter Ernährungsarmut und Einkommensungleichheit ist auch die Verteilung von Vermögen ein großes Problem. Laut des aktuellen Sozialberichts des Landesministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales von 2020 verfügten die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung 2018 über 51,2 % des Gesamtvermögens. Mehr als 20 Prozent der minderjährigen und jungen Erwachsenen lebten zudem in von relativer Einkommensarmut betroffenen Haushalten, also solchen mit Einkommen unterhalb oben genannter Schwelle.

Mit Blick auf den einmal pro Legislaturperiode erscheinenden Sozialbericht und dort festgehaltene Entwicklungen zwischen 2014 und 2018 gestand auch die Landesregierung ein, dass die genannten Probleme chronischer Natur sind: "Immer noch sind dieselben Personengruppen und Familien und deren Kinder von Armut und Ausgrenzung besonders betroffen: Alleinerziehende, Arbeitslose, Menschen mit Migrationshintergrund, Geringqualifizierte." Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) verwies bei der Vorstellung des Berichts auf das 2018 gestartete Programm "Zusammen im Quartier – Kinder stärken – Zukunft sichern", das aus Landes- und EU-Mitteln finanziert wird. Die Landesregierung stellt damit Geld für Projekte "zur Bekämpfung von Kinder-, Jugend- und Familienarmut in besonders benachteiligten Quartieren zur Verfügung, die auch zur Krisenbewältigung im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie und ihrer sozialen Folgen beitragen".

Sozialverbände schlagen Lösungen gegen Wohnungsnot vor

Warum ändert sich dennoch grundlegend schon so lange kaum bis nichts? "Leider ist immer wieder festzustellen, dass gute Ideen im Diskussionsprozess zerredet und mit Hinweisen auf Richtlinien, Kosten oder fehlende Verantwortlichkeit versehen werden", schrieb die Landesarbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalen im letzten Landessozialbericht mit Blick auf dessen Schwerpunktthema: Wohnen. Eine Weiterentwicklung von Ideen, "die grundlegend oder auch im Einzelfall vielen Menschen helfen würden", werde damit unmöglich gemacht: "Dies schürt Zweifel am tatsächlichen Willen von Politik und Behörden, Wohnungsnot weitestgehend zu vermeiden."

Um im Kampf dagegen voranzukommen, schlagen die Verbände einen systematischen Austausch "von Ämtern, Vermietenden, Immobilienfachleuten und Verbänden" und eine "zentrale Anlaufstelle in Kommunen oder Kreisen" vor, um Menschen etwa bei drohendem Wohnungsverlust eng zu begleiten. Sie kritisieren außerdem, Probleme würden nur verwaltet statt konsequent angegangen: "Einzelmaßnahmen, wie sie in der Vergangenheit auch z. B. bei der Kältehilfe zu beobachten waren, sind häufig öffentlichkeitswirksam und können akut helfen, bekämpfen aber letztlich nicht die Ursachen".

Was wollen die Parteien bei der Landtagswahl?

In ihren Programmen zur Landtagswahl setzen die Parteien beim Thema Wohnen unter anderem auf eine altbekannte Maßnahme, die für sich genommen nach Ansicht von Fachleuten nicht reicht und die sich auch Bundesregierungen immer wieder vornehmen: mehr Wohnungen. Die SPD will etwa 100.000 pro Jahr in NRW bauen, wovon 25.000 öffentlich geförderte Sozialwohnungen sein sollen. CDU und FDP wollen den Eigenheim-Erwerb fordern, die Liberalen zudem unter dem Stichwort "sozialer Wohnungskauf" Mieterinnen und Mietern ermöglichen, die von ihnen bewohnte Immobilie zu erwerben. Die Linke will die Macht großer Konzerne und in dem Zusammenhang auch die Höhe von Mieten gesetzlich beschränken. Die AfD setzt sich für eine Senkung der Grunderwerbssteuer ein, die beim Kauf eines Grundstücks beziehungsweise eines Anteils daran anfällt.

Sozialpolitische Themen finden sich auch im "Sozial-O-Mat" der Diakonie wieder, mit dem sich die Positionen der Parteien in den Bereichen "Familie und Kinder, Armut und Arbeitsmarktpolitik, Flucht und Integration, Gesundheit und Pflege, Klima und Wohnen" vergleichen lassen. Ergänzt wird die an den "Wahl-O-Mat" der Bundeszentrale für politische Bildung angelehnte Übersicht durch Hintergrundinformationen zu den verschiedenen Themenschwerpunkten. Wer die Wahlprogramme selbst durchlesen möchte, findet bei der Transparenzplattform "abgeordnetenwatch.de" eine Zusammenstellung. Klar ist schon jetzt, dass es viel zu tun gäbe, egal zu welcher Koalition es nach der Wahl kommt. Oder wie es der Sozialverband VdK formuliert: "Für die künftige Landesregierung besteht (...) ein breites sozialpolitisches Handlungsfeld."

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Verwendete Quellen:

  • Mags.NRW (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales): NRW hält zusammen – Zusammen im Quartier
  • IT.NRW: NRW: Jeder Sechste von relativer Einkommensarmut bedroht
  • Destatis.de (Statistisches Bundesamt): Armutsrisiken haben sich in Deutschland verfestigt
  • Vdk.de: Forderungen des VdK NRW zur Landtagswahl 2022
  • KStA.de (Kölner Stadt-Anzeiger): Was die Parteien nach der Landtagswahl vorhaben
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