Premierminister Boris Johnson hat die Parlamentswahl in Großbritannien mit absoluter Mehrheit gewonnen – und dürfte das Land Ende Januar 2020 aus der EU führen. Jeremy Corbyn und seine Labour Party kassierten die größte Wahlschlappe seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Verlierer des Abends kündigte seinen Rückzug an.

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Als Boris Johnson am Donnerstagmorgen in einem Wahlbüro im Zentrum Londons mit Hündchen Dilyn seine Stimme abgab, wirkte der Premierminister gelöst und zuversichtlich. An dieser Stimmung dürfte sich am Abend kaum etwas geändert haben.

Schon in den ersten Prognosen um 23 Uhr deutscher Zeit zeichnete sich eine absolute Mehrheit für die Konservativen ab. Am Freitagmorgen stand der größte Sieg der Tories seit der Thatcher-Ära dann endgültig fest: Mit 43,6 Prozent und 364 von 650 Mandaten (Stand: 11 Uhr) gewann Johnson die wichtigste Wahl seit Jahrzehnten deutlich vor Labour mit 203 Mandaten, der Schottischen Nationalpartei (48) sowie den Liberaldemokraten (11).

Wahl in Großbritannien: "Es ist ein bisschen eine Überraschung"

"Es ist ein bisschen eine Überraschung. Die Mehrheit für die Konservativen ist doch deutlicher ausgefallen als erwartet", sagt Dr. Christian Schweiger, Politologe an der Technischen Universität Chemnitz.

Laut Medienberichten war der Rückstand von Labour auf die Konservativen in den letzten Tagen vor der Stimmenabgabe geschrumpft, einige Beobachter rechneten erneut mit unklaren Mehrheitsverhältnissen, einem sogenannten "Hung Parliament". Aus der erwarteten Zitterpartie für Johnson wurde ein Debakel für Labour. Er wolle "Tag und Nacht" arbeiten, um das Vertrauen der Wähler nach dieser "historischen" Wahl zurückzuzahlen, kündigte Boris Johnson im Anschluss an.

Johnson und der Brexit: "Augen zu und durch"

Der neue und alte Premierminister hat seine erhoffte breite Mehrheit im House of Commons bekommen – mit dem größten Vorsprung an Mandaten seit 1987. "Johnsons Regierung kann ihre politische Agenda nun selbstbewusst durchsetzen und Gesetze nahezu unangefochten verabschieden, ohne auf andere Parteien eingehen zu müssen", erklärt Dr. Marius Guderjan vom Centre for British Studies an der Humboldt-Universität Berlin. Mit dieser komfortablen Mehrheit dürfte er seine Fraktion, die er in den vergangenen Monaten von Brexit-Kritikern regelrecht gesäubert hat, vollends im Griff haben.

Johnson will mit der starken Rückendeckung nun den EU-Austritt schnellstmöglich vollziehen. "Das Ergebnis macht es wahrscheinlich, dass es am 31. Januar tatsächlich mit dem Brexit klappen könnte", glaubt Politologe Schweiger. In seinen Augen kam die Wahl fast einem zweiten Brexit-Referendum gleich.

Für 60 Prozent der Briten war der EU-Austritt das wichtigste Thema im Wahlkampf. Die deutliche Mehrheit entschied sich nach dreieinhalb Jahren parteipolitischen Gezerres und wirtschaftlicher Unsicherheit für eine klare Lösung. "Die Konservativen konnten den Großteil der Brexit-Befürworter für sich gewinnen", erklärt Großbritannien-Experte Guderjan.
Dass Boris Johnson keine hohen Beliebtheitswerte genießt und wegen seiner teils spaltenden Rhetorik umstritten ist, spielte bei der Wahl letztlich keine Rolle. "Die Leute haben gesagt: Augen zu und durch. Wir müssen jetzt den Brexit durchziehen", schlussfolgerte der britische Journalist Graham Lucas im TV-Sender "Phoenix".

Neutrale Brexit-Haltung kostet Labour Stimmen

Sein Gegenspieler Jeremy Corbyn war vielen Wählern wegen Antisemitismus-Vorwürfen und seiner sehr linken Haltung eben auch suspekt. Die Verluste für Labour resultieren laut Schweiger und Guderjan aber vor allem aus der geringen Unterstützung in der Arbeiterklasse, bei den traditionellen Labour-Wählern in der unteren Einkommensgruppe.

"Sie waren mit der Einstellung Corbyns zum Brexit sehr unzufrieden", erklärt der Chemnitzer Forscher, "und haben lieber jemanden gewählt, von dem sie wissen, dass er den Brexit auch wirklich zu Ende bringt." Corbyn hatte sich nicht klar für oder gegen den EU-Austritt positioniert und wollte bei einem von Labour geforderten zweiten Referendum neutral bleiben.

Das Ergebnis ist ein persönliches Debakel für den selbsterklärten Sozialisten, der am Wahlabend nach der größten Labour-Pleite seit 1935 seinen Rückzug ankündigte – allerdings erst nach einer Übergangsphase. Seine Parteikollegin Siobhan McDonagh hatte ihn direkt für die historische Wahlniederlage verantwortlich gemacht. "Das ist die Schuld eines Mannes. Seine Kampagne, sein Manifest, seine Führung", schrieb sie auf Twitter.

Schottisches Unabhängigkeitsreferendum wird wahrscheinlicher

Für Aufsehen sorgte auch das starke Ergebnis der Schottischen Nationalpartei, die ihre Stimmen um fast zehn Prozent steigerte und 47 von 59 Wahlkreisen in Schottland gewann (Stand: 11 Uhr). Politologe Schweiger rechnet damit, dass der schon seit langen Jahren in Schottland befeuerte Nationalismus durch Johnsons Brexit-Deal, der in seinen Augen fast einem harten Brexit gleichkommt, noch einmal Auftrieb bekommt. "Ich würde mich nicht wundern, wenn ein neues Referendum in Schottland, wenn es denn zustande kommt, für die Unabhängigkeit ausgehen würde", sagt er. John Bercow, bis vor kurzem Sprecher des Unterhauses, erklärte im Sender "Sky News", die Schottische Nationalpartei werde nun vehement auf ein zweites Unabhängigkeitsreferendum drängen. 62 Prozent der Schotten hatten sich 2016 gegen den Brexit ausgesprochen.

Experte Schweiger: Deutschland sollte mehr führen

Und was sind die Folgen für Deutschland und die EU? "Für Deutschland wird es wichtig sein, diesen Brexit jetzt konstruktiv zu begleiten und abzuwickeln", sagt Schweiger. In der EU gehe es darum, unter deutscher Führung mit den verbliebenen 27 Staaten mehr Zusammenhalt zu finden. Eine aktivere deutsche Europa-Politik sei nun notwendig. "Und wir müssen uns überlegen, wer unsere Partner sind jenseits von Frankreich, beispielsweise in Mittel-Osteuropa."

Für die deutsche Wirtschaft geht die Unsicherheit kurz vor dem Brexit jetzt erst so richtig los. Johnson will zwar bis Ende des Jahres ein Handelsabkommen mit der EU vereinbaren, was Brüssel für extrem unrealistisch hält. Aber auch ein harter Brexit ist nicht ausgeschlossen, wenn eine Einigung scheitert. Der ökonomische Schaden ist ohnehin schon da - er wäre in diesem Fall noch größer, vor allem auf der Insel. Daher hält es Christian Schweiger sogar für möglich, dass die Briten es sich mit dem EU-Austritt in den kommenden Jahren noch mal überlegen. "Es kann sein", sagt er, "dass wegen der negativen innenpolitischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Großbritannien eine neue Debatte entflammt." Sollte dieses Szenario eintreten, wäre die britische Parlamentswahl 2019 im Rückblick nicht ganz so historisch, wie es einen Tag nach dem Votum scheint.

Zur Person: Dr. Christian Schweiger ist Vertreter der Professur für Europäische Regierungssysteme im Vergleich an der Technischen Universität Chemnitz. Dr. Marius Guderjan ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Bereich britische Politik am Centre for British Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Quellen

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