Vor einem Jahr starb die kurdische Iranerin Jina Mahsa Amini, nachdem sie von der Sittenpolizei misshandelt worden war. Im Interview spricht die Journalistin, Ärztin und Iran-Expertin Gilda Sahebi über die landesweiten Proteste, die das Ereignis auslöste, das Versagen des Westens und ihre Hoffnung, das Land ihrer Geburt bald wieder besuchen zu können.
Am 16. September 2022 starb Jina Mahsa Amini. Zuvor war sie von der Sittenpolizei des iranischen Regimes festgenommen und misshandelt worden, weil sie ihr Kopftuch nicht richtig getragen haben soll. Ihr Tod war der Funke, der die ohnehin angespannte Situation im Land explodieren ließ: Hunderttausende Iranerinnen und Iraner gingen auf die Straße und forderten die Herrschenden heraus.
Das Regime ging mit äußerster Brutalität gegen den Protest vor. Menschenrechtsorganisationen gehen von Hunderten getöteten und hingerichteten Oppositionellen aus. Große Demonstrationen gibt es derzeit im Iran nicht mehr.
Doch Gilda Sahebi glaubt, dass der Bruch zwischen Regime und Bevölkerung nicht mehr zu kitten ist. Sie spricht von einem "revolutionären Prozess", der nicht mehr aufzuhalten sei. Mit drei Jahren kam Sahebi, Jahrgang 1984, mit ihrer Familie aus dem Iran nach Deutschland.
Heute gehört die Journalistin, Ärztin und Buchautorin zu den gefragtesten Expertinnen für ihr Heimatland. Gerade in diesen Tagen hat sie wieder einen besonders vollen Terminkalender – das Medieninteresse am Iran nimmt gerade wieder deutlich zu, sagt sie.
Frau Sahebi, am Samstag jährt sich zum ersten Mal der Tod der kurdischen Iranerin Jina Mahsa Amini, der landesweite Proteste auslöste. Was erwarten Sie für diesen Tag?
Gilda Sahebi: Ich habe diese Woche viel mit Menschen im Iran gesprochen. Sie erzählen von zahlreichen Aufrufen zu Protesten. Und gleichzeitig ist das Regime gut vorbereitet: Die Städte sind noch stärker militarisiert als vorher. In Kurdistan werden Zugänge zu den Städten kontrolliert. Das Regime will mit allen Mitteln verhindern, dass die Menschen protestieren gehen. Ein Freund von mir hat mir gesagt, dass er dennoch demonstrieren wird. Und dass er vielleicht nicht wiederkehrt. Es heißt, dass das Regime Blut sehen will. Aber die Leute werden dennoch versuchen, auf die Straße zu gehen.
Vergangene Woche hat das Regime den Onkel von Jina Mahsa Amini festgenommen. Was steckt dahinter?
Das ist eine Strategie des Regimes: Die Angehörigen von Ermordeten sollen vom Trauern abgehalten werden, denn sie sind der lebende Beweis für die Verbrechen des Staates. Am Samstag soll es eine Trauerfeier für Jina Mahsa Amini geben. Auch das will das Regime verhindern. Die Familie hat aber angekündigt, dass sie es dennoch machen werden.
Als die Proteste im September losgingen, war schnell von einer "Revolution" die Rede. Ist der Begriff im Nachhinein gerechtfertigt?
Ich selbst spreche von einem revolutionären Prozess oder, wie in meinem Buch, von einer Revolte. "Revolution" kann man immer erst im Nachhinein sagen, glaube ich. Die Menschen im Iran reden aber tatsächlich von einer Revolution. Immer noch. Auf jeden Fall haben die Veränderungen im Iran nicht erst im September begonnen, die Unzufriedenheit der Menschen zeigt sich schon seit einigen Jahren offen. Die Zahl der Proteste ist immer mehr angestiegen, der Widerstand im Iran wächst und wächst. Und ein Ende ist nicht in Sicht.
Sie haben Ihr Buch "Unser Schwert ist Liebe" über die Iran-Proteste erwähnt. Im Untertitel ist von einer "feministischen Revolte" die Rede. Können Sie kurz den ersten Teil erläutern? Warum "feministisch"?
Bei vergangenen Protesten ging es zwar auch um die Unterdrückung der Frau im Iran, sie stand aber nicht im Zentrum. Das hat sich vergangenes Jahr verändert. Viele Demonstranten, auch Männer, haben verstanden: Der Kampf gegen die systematische Unterdrückung der Frau ist der Weg zur Freiheit. In Deutschland ist Feminismus kein beliebtes Konzept. Ich glaube, weil dieser Begriff nicht richtig verstanden wird. Feminismus ist nichts von Frauen für Frauen und schon gar nichts gegen Männer. Feminismus bedeutet einfach, dass es eine Gleichberechtigung aller Geschlechter, aber auch aller Ethnien und Klassen gibt. Im Iran haben das vielleicht sogar mehr Menschen verstanden als hier.
Wie hat sich das Leben für die Menschen im Iran, speziell für die Frauen, seit den Protesten verändert?
Meine Freunde und Bekannte dort erzählen mir, dass es einen viel größeren Zusammenhalt gibt als vorher. Die Ablehnung des Regimes wird nicht mehr nur privat gezeigt, sondern auch öffentlich. Auf den Straßen veranstalten die Menschen Tänze, was verboten ist. Ein Affront gegen die Herrschenden. Außerdem hat sich die Stellung der Frauen verändert, und nach wie vor tragen sehr viele von ihnen kein Kopftuch in der Öffentlichkeit.
Warum ist das Kopftuch für diese Proteste so bedeutsam?
Das Kopftuch ist ein Symbol. Im Iran hat es eine andere Bedeutung als in Deutschland. Dort steht es für die systematische staatliche Unterdrückung von Frauen, die rechtlich verankert ist und in alle Lebensbereiche hineinwirkt. Der Zwang, ein Kopftuch zu tragen, ist davon der sichtbarste Ausdruck. Sollte die Kopftuchpflicht fallen, würde ein wichtiger Pfeiler des Regimes wegbrechen. Deshalb versucht dieses auch, mit allen Mitteln die Frauen wieder dazu zu zwingen, das Kopftuch zu tragen. Bisher sind sie damit grandios gescheitert.
Anders als von vielen erhofft, wurde das Regime aber bisher nicht gestürzt. Warum nicht?
Der erste Grund ist, dass der Staat das absolute Gewaltmonopol hat. Das ist nicht wie in anderen Staaten der Region, wo es auch in der Bevölkerung Waffen gibt. Die Iranerinnen und Iraner haben nichts, womit sie sich verteidigen können. Hunderte von Ihnen wurden im Zuge der Proteste ermordet. Seit 44 Jahren baut das Regime ein sehr gut durchdachtes, gewaltvolles System auf. Das ist ein Staat, der vollkommen auf Unterdrückung ausgerichtet ist. Der zweite Grund ist die internationale Gemeinschaft und vor allem der Westen, der von hohen moralischen Werten spricht, die Menschen aber nicht unterstützt hat. Es wurden viele Reden geschwungen, aber kaum etwas getan.
Dabei hat sich Annalena Baerbock, die deutsche Chefdiplomatin, sogar die "feministische Außenpolitik" auf die Fahnen geschrieben.
Diesem Anspruch ist sie nicht gerecht geworden. Man muss es so klar sagen: Die deutsche Außenpolitik ist entgegen allen Beteuerungen nicht wertegeleitet. Seit den Protesten im September vergangenen Jahres habe ich keinen bedeutenden Wandel in der deutschen Iran-Politik festgestellt.
Was erwarten Sie von der deutschen Regierung und der EU?
Zuerst müsste es mal gezielte Sanktionen gegen das Regime geben. Bisher treffen diese größtenteils die einfache Bevölkerung. Man muss sich fragen, wie man den Menschen im Iran helfen kann, damit die ihre Streikkassen füllen können, ihre Armut abgemildert werden kann. Die Sanktionen wiederum müssen auf die Menschenrechtsverbrecher im Land zugeschnitten werden. Auf der EU-Sanktionsliste stehen nur etwa 200 Menschen, dabei müssten es Tausende sein. Außerdem müssten die Revolutionsgarden auf die Terrorliste kommen. Auch das ist bisher nicht geschehen.
Sie sind ständig in Kontakt mit Menschen im Iran. Sind diese enttäuscht von Deutschland?
Das Traurige ist, dass Deutschland immer hochgeschätzt war unter Iranerinnen und Iranern. Man hat deutsche Technologie bewundert und viele sind nach Deutschland zum Studieren gekommen. Dieses positive Image hat die Bundesrepublik in den letzten Monaten jedoch verspielt.
Sie haben beschrieben, wie grausam das Regime gegen die Demonstranten vorgeht. Was macht Ihnen Hoffnung, dass der Umsturz dennoch gelingen wird?
Von Hoffnung spreche ich immer nicht so gerne. Mit dem Konzept kann ich nicht viel anfangen. Die Analyse ist aber klar: Die Mehrheit der Bevölkerung ist gegen das Regime. Die Herrschenden haben die junge Generation komplett verloren. Die sagen, ich sterbe lieber in den Kugeln, als unter solchen Bedingungen weiterzuleben. Eine 18-Jährige hat mir diese Woche auch erzählt, dass sie stolz darauf ist, dass sie für die nächste Generation kämpft. Sie ist sich des Risikos bewusst, dass sie eines Tages nicht von den Demonstrationen zurückkommen könnte. Wegen solcher Aussagen bin ich sicher, dass sich dieses Regime nicht auf Dauer halten wird.
Wie würde der Iran nach dem Sturz des Regimes Ihrer Meinung nach aussehen?
Das können nur die Menschen im Iran wissen. Aber eine Staatenbildung ist immer sehr, sehr schwierig. Ich will mir gar nicht vorstellen, was in Deutschland los wäre, wenn alle Menschen zusammenkommen müssten, um sich für ein politisches System zu entscheiden. Eins ist sicher: Der Iran steht vor einem schwierigen Weg. Da ist viel Wut bei den Menschen, verständlicherweise. Das Regime hat ihre Kinder ermordet. Etwas Schlimmeres kann ein Staat nicht machen. Ob das eine Versöhnungskommission jemals aufarbeiten könnte, kann ich nicht sagen. Was ich aber weiß: Im Iran gibt es sehr viele Menschen, die wissen, was eine Demokratie ist, und die wissen, was ein Rechtsstaat ist.
Sie waren zuletzt als Kind im Iran. Ein Sturz des Regimes würde bedeuten, dass Sie wieder in das Land Ihrer Geburt reisen dürfen. Denken Sie oft über diesen Moment nach?
Ja, sehr oft. Vor allem in den ersten Wochen der Proteste war das so. Mein Vater rief mich damals an und sagte, er habe sich schon den leeren Koffer ins Schlafzimmer gestellt, damit er sofort packen könnte, wenn das Regime fällt. Ich wusste natürlich, dass es nicht so schnell passieren würde. Ich war nicht naiv. Aber es bleibt für mich ein großer Traum, mit meiner Familie in den Iran zu fahren. Zu den Gräbern meiner Großeltern.
Zur Person
- Gilda Sahebi ist 1984 im Iran geboren und kam drei Jahre später mit ihrer Familie nach Deutschland. Sie studierte Humanmedizin und Politikwissenschaften und machte im Anschluss ein journalistisches Volontariat beim Bayerischen Rundfunk. Seitdem arbeitet sie für zahlreiche Medien zu so unterschiedlichen Themen wie Gesundheitspolitik, Rassismus, Feminismus oder den Nahen Osten. 2022 kürte sie das "Medium Magazin" zur Politik-Journalistin des Jahres. Im März erschien ihr Buch "Unser Schwert ist Liebe: Die feministische Revolte im Iran".
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