- Die Proteste in Folge des Tods von Mahsa Amini im Iran reißen nicht ab: Weiterhin demonstrieren landesweit Tausende gegen das Mullah-Regime.
- Die Zahl der Festnahmen ist bereits vierstellig, es gibt Tote.
- Wie gefährlich wird der politischen Führung die Protestwelle? Iran-Experte Adnan Tabatabi gibt eine Einschätzung.
Die Lage im Iran spitzt sich weiter zu: Trotz Warnung der Behörden demonstrieren landesweit tausende Menschen weiterhin gegen das islamische Herrschaftssystem. Bilder von Festnahmen, Schlägen und Tränengas gehen um die Welt. Auch in Metropolen wie Paris und London gab es aus Solidarität Kundgebungen und Proteste.
Die Zahl der getöteten Zivilisten und Sicherheitsbeamten wurde offiziell zuletzt mit 41 angegeben, Aktivisten schätzen, dass es mehr sind. Neben Protestaktionen wie dem Verbrennen von Kopftüchern und dem Abschneiden von Haaren gibt es inzwischen auch brutalere Szenen: Demonstranten werfen mit Steinen, zünden Polizeiautos und staatliche Gebäude an und veröffentlichen Bilder von vorbereiteten Molotowcocktails.
Proteste im Iran: Festgenommene sollen vor Sondergerichte kommen
Die Demonstranten, die immer wieder "Islamische Republik wollen wir nicht, wollen wir nicht" oder "Tod dem Diktator" rufen, stellen sich gegen das islamische Herrschaftssystem und die systematische Diskriminierung von Frauen. Aufhänger für die Protestwelle war der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini im Polizeigewahrsam. Sie war von Sittenwächtern mitgenommen worden, weil sie das Kopftuch nicht so trug, wie es die strengen iranischen Gesetze vorschreiben.
Die Führung des Landes spricht von "Unruhestiftern", die vom Ausland angeheuert wurden. Die Zahl der Festnahmen ist inzwischen vierstellig, ihnen könnten lange Haftstrafen drohen. Der Justizchef der Hauptstadt Teheran, Ali Alghassimehr, kündigte an, sie vor Sondergerichte zu stellen. "Die Justizbeamten sollen mit ihnen genauso wie mit Vergewaltigern und Schwerverbrechern umgehen", sagte er. Auch Staatschef Ebrahim Raisi forderte die Sicherheitskräfte zu einem "entschiedenen Vorgehen" gegen die Proteste auf.
Er verhängte eine weitgehende Internetblockade, die es den Demonstranten erschweren soll, Informationen auszutauschen und im Netz zu veröffentlichen. "Der Versuch, jetzt friedliche Proteste mit noch mehr tödlicher Gewalt zu unterdrücken, darf nicht unbeantwortet bleiben", sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) der dpa und sprach sich für neue Sanktionen aus. Der iranische Botschafter wurde einbestellt.
Iran-Experte: Machterhalt des Regimes ist nicht "wirklich gefährdet"
Iran-Experte Adnan Tabatabai hat die Proteste von Beginn an aufmerksam verfolgt. "Ich glaube nicht, dass der Machterhalt des Regimes wirklich gefährdet ist", sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Bestimmte Vorgehensweisen der Kulturpolitik des Landes oder der fehlenden Repräsentanz weiter Teile der Bevölkerung könne die politische Elite so aber vermutlich nicht fortsetzen.
"Immer wieder kommen Proteste auf, eine Neuausrichtung der Politik ist geboten", sagt er. Das werde inzwischen auch von politischen Figuren gefordert und es gebe auch selbstkritische Stimmen. "An dem Punkt, dass das System des Landes in sich zusammenbricht, sind wir aber noch nicht", weiß Tabatabai. Anders als im Irak gebe es beispielsweise keine Bilder von gestürmten Parlamentsgebäuden.
"Für einen Umsturz braucht es vor allem politische Alternativen mit einer halbwegs klaren Vision dessen, was nach dem Sturz kommen soll", erinnert der Experte.
Umsturz ist laut Experte "unwahrscheinlich", dennoch könnte sich "etwas ändern"
"Es gibt keine politischen Figuren, die als Alternative und als Führer einer Oppositionsbewegung auftreten können", erklärt er. Gleichzeitig gebe es immer noch Rückhalt für das Mullah-Regime in der Bevölkerung. "Es mag eine Minderheit sein, aber es gibt genügend Befürworter des Staatsapparates. Ein Umsturz ist deshalb unwahrscheinlich", sagt Tabatabai.
Viele Amtsträger, ehemalige Minister und Parlamentarier hätten jedoch ein Umdenken bei der Frage des Verschleierungsgebots gefordert. "Es könnte sich also etwas ändern", schätzt der Experte. "Ein kleinerer Schritt wäre eine veränderte Umsetzung des Kopftuchgebots: Die Sittenwächter könnten nicht mehr patrouillieren", sagt er.
So könnte man zwar formal an der Kopftuchpflicht festhalten, in der Praxis die Sittenpolizei aber abschaffen. Das dürfte für viele zu wenig sein, aber für andere wiederum ein guter erster Schritt.
Stille Solidarität im Iran
Tabatabai schätzt, dass Gebote und Verbote nur sehr langsam und schrittweise fallen dürften. "Die politische Führung der islamischen Republik weiß, dass zu große Zugeständnisse auf eine Demonstrationsbewegung dazu führen können, dass sie sich ermutigt fühlt, weiterzumachen", erklärt er.
"Die Forderungen der Demonstrantinnen und Demonstranten gehen natürlich weit über die Verschleierung und die Präsenz der Sittenpolizei hinaus", erinnert er. Es gehe um Rechte von Frauen und ethnischen Minderheiten. Kämen zu viele Forderungen auf den Tisch, würde der Machtapparat aber dicht machen.
"Es gibt eine kleine, aber sehr entschlossene Front, die unerschrocken und kritisch auf der Straße protestiert. Sie ist sich darüber einig, dass das gesamte politische System in der jetzigen Form nicht fortbestehen darf", beobachtet Tabatabai. Weil Demonstrieren im Iran aber so gefährlich ist, sei davon auszugehen, dass es jede Menge stille Solidarität gibt. Wie viele Protestierende es jeweils sind, sei kaum seriös zu schätzen.
"In dem Grad, wie weit sich das System verändern soll", unterscheidet sich diese Front jedoch, sagt Tabatabai. Er hält die Chancen, dass sich etwas zum Besseren ändert für dann am größten, wenn politische Figuren Solidarität zeigen können. "Je gewaltsamer das Geschehen wird, desto größer ist der Zwang, sich als politisches Mitglied der Elite davon zu distanzieren. Dann könnte die Solidarität verpuffen", erklärt er.
Über den Experten:
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Adnan Tabatabai, Iran-Experte
- Deutsche Presse-Agentur (dpa): Mahsa Amini: Baerbock fordert neue Sanktionen gegen Iran
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