Joachim Gauck auf den Spuren der Einheit: In einer Dokumentation für das ZDF hat der ehemalige Bundespräsident am Dienstagabend nach dem Stand der Wiedervereinigung gesucht. Wirklich Handfestes bekommt man nicht als Antwort, dafür aber ein Plädoyer gegen ostdeutsche Ohnmachtsgefühle und gegen die, die diese ausnutzen.

Christian Vock
Eine Kritik

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Sucht man via Internet-Suchmaschine nach genau den Sätzen "Wie vereint ist Deutschland?" und "So vereint ist Deutschland", erhält man insgesamt etwa 385 Treffer. Man kann das nun als viel oder wenig einstufen, die Frage nach dem Grad der Wiedervereinigung scheint das Land aber beständig umzutreiben.

Auch die Filmemacher Stephan Lamby und Florian Huber hat interessiert, wie vereint Ost und West inzwischen sind. Um diese Frage zu klären, haben sie niemand Geringeren als den ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck auf einer Reise quer durch Deutschland begleitet.

"30 Jahre Mauerfall – Joachim Gaucks Suche nach der Einheit" heißt die 45-minütige Dokumentation, die am Dienstagabend im ZDF und bereits zuvor in der Mediathek zu sehen war und bereits der Titel wirft die erste, elementare Frage auf: Was will Gauck bei seiner Suche nach Einheit finden? Wie misst man Einheit?

Joachim Gauck spricht mit Pegida-Mitgründer

Joachim Gauck will das vor allem durch Gespräche machen und umso interessanter ist daher die Auswahl der Gesprächsteilnehmer. Gauck trifft einen Pegida-Anhänger, die Bürgerrechtlerin Marianne Birthler, den letzten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière, den Schriftsteller Navid Kermani oder die ehemalige AfD-Sprecherin Frauke Petry. Man hat den Eindruck, dass die Auswahl der Gesprächspartner so ausgewogen wie möglich sein sollte.

"Eine außergewöhnliche Reise durch Deutschland zu Menschen, die die Einheit geprägt haben. Zu Dankbaren und Wütenden", nennt der Sprecher die Idee hinter der Auswahl. Einer, der nicht dankbar, sondern wütend ist, ist René Jahn. Gauck trifft sich mit dem Pegida-Mitgründer im sächsischen Torgau. Monate zuvor wurde Gauck von dessen Anhängern in Dresden noch als "Volksverräter" beschimpft, was Gauck noch sichtlich in den Knochen hängt.

Als Jahn behauptet, die Distanz zwischen Politikern und Bürgern, die Gauck eigentlich verringern wollte, sei in den vergangenen sechs Jahren größer geworden, platzt Gauck der Kragen: "Und das ist ein großes Problem von Pegida. Dass praktisch ein Graben gezogen wird: Hier das Volk, also sagen wir einmal 20 Prozent der Sachsen sind da das ganze Volk. Dort die gewählten Repräsentanten von der Mehrheit der Sachsen und die sind plötzlich nicht das Volk, sondern sind das System. Da stimmt doch irgendwas nicht und das müssen Sie doch begreifen!"

Auch wenn Gauck und Jahn noch lange gesprochen haben sollen, wie der Sprecher berichtet, bleibt es etwas vage, was das gezeigte Gespräch mit Jahn mit der Einheit des Landes zu tun hat. In der Pegida-Logik sind ja vor allem die Ausländer an der vermeintlich schlimmen Lage schuld und nicht die Westdeutschen. Ganz im Gegenteil, Pegidisten sehen sich in ihrem Weltbild als Beschützer des gesamten christlichen Abendlandes und nicht nur des ostdeutschen Abendlandes.

Es gibt weiter eine messbare Ungleichheit in Deutschland

Deutlich handfester wird da das Gespräch mit Marianne Birthler, Gaucks Nachfolgerin als oberste Verwalterin der Stasi-Unterlagen und Bürgerrechtlerin. Birthlers persönliches Fazit fällt mit Blick auf die Rechte und Freiheiten, für die sie in der DDR auf die Straße gegangen ist, eindeutig aus: "Meine wichtigsten Hoffnungen sind alle in Erfüllung gegangen. Ich wollte Bürgerin eines freien Landes werden, in einem Rechtsstaat leben. Ich wollte mir selber aussuchen, was ich an Zeitungen lese. Ich wollte keine Angst haben, um meine Enkelkinder, wenn sie ihre Meinung offen sagen."

Dennoch ist sich Birthler bewusst, dass es durchaus eine messbare Ungleichheit in Deutschland gibt:"Wir dürfen uns nicht davon täuschen lassen, dass es mal einen ostdeutschen Bundespräsidenten gab und wir eine ostdeutsche Kanzlerin haben. Aber insgesamt sind die Ostdeutschen auf der Ebene der Elite ganz, ganz gering vertreten."

Hier wird die Doku zum ersten Mal konkret, nennt explizite Unterschiede zwischen Ost und West. Auf einen weiteren weist Gauck selbst bei einer Zugfahrt über die ehemalige deutsch-deutsche Grenze hin. Während über die physischen Grenzen im wahrsten Sinne des Wortes inzwischen Gras gewachsen ist, bleiben die Erlebnisse in der DDR-Diktatur nur für deren Opfer immer noch präsent.

"Das sind die langen Schatten. Die existieren in den Seelenlandschaften der Menschen. Diktatur ist nicht nur äußere Verwaltung, Diktatur geht in die Seelen der Menschen hinein mit ihren Forderungen nach Unterwerfung. Wenn man das verinnerlicht hat, dann lebt ein Teil des Diktators, ob einem das bewusst ist oder nicht, in einem selber", sinniert Gauck. Inwieweit dieser Unterschied aber einer Einheit im Wege steht, das bleibt in der Doku offen.

Nicht zur Ohnmacht verdammt

Es war abzusehen, dass Gaucks Suche nach Einheit nur schwer ein echtes Ergebnis, jenseits von Gefühltem, bringen würde. Dass es, wie Gauck zufällige Rostock-Touristen aus dem Rheinland erklären, überall in Deutschland Unterschiede zwischen den Regionen gibt, gehört dabei zu den Weisheiten, die bei der Frage nach der Einheit in Deutschland gerne übergangen wird.

Insofern ist die Doku an vielen Stellen weniger eine Studie mit greifbaren Ergebnissen, sondern mit seinen Einspielern historischer Ereignisse oft eher eine Geschichtsstunde. Eine Botschaft dieser Geschichtsstunde liegt Gauck aber besonders am Herzen, er erwähnt sie nicht nur einmal: Die Fähigkeit und Freiheit, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Beim Gespräch mit Marianne Birthler erzählt etwa Birthler über den "Aufbau Ost": "Man kann nicht erwachsen werden, wenn man permanent alimentiert wird. (…) Ich glaube, das tut dem Stolz von Menschen nicht gut und auch ihrer Entwicklung zu einem Subjekt nicht gut." Das sieht Gauck genauso: "Und wenn man ohnehin schon der kleinere Teil ist, dann kommt 'ne Menge zusammen, was einen dann dazu verführt, in seiner eigenen Seele irgendwie unzufrieden zu sein."

Unzufriedenheit ist auch Thema beim Gespräch mit Frauke Petry. Petry setzt die Ohnmacht und die Bevormundung, die heute viele Ostdeutsche empfinden würden, mit der Ohnmacht in der DDR-Diktatur gleich. Das löst bei Gauck echtes Entsetzen aus: "Das ist doch fahrlässig. Wie können Sie so etwas sagen!"

Als Petry sich dann auch noch als Anwältin der scheinbar ohnmächtigen Bürger generiert, spricht Gauck Klartext: "Sie reden ja für eine Klientel, der sie selber gar nicht angehören. Das ist ja unmöglich. Sie brauchten ja nur zu sagen: Schaut mich an, liebe Wählerinnen und Wähler, und ihr seht die Möglichkeiten dieses Staates und dieser Demokratie. Die ist nämlich keineswegs so, dass wir zur Ohnmacht verdammt sind, sondern die ist so, dass wir uns ermächtigen können. Wir können Unternehmen gründen, unsere Kinder erziehen, wie wir wollen, unsere Regierung abwählen, selber Parteien gründen und fortwährend aktiv sein. Das ist das, was sie ihren Leuten, die Ohnmacht verspüren, zu sagen haben!"

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