Christof Johnen ist der Leiter der internationalen Zusammenarbeit beim Deutschen Roten Kreuz (DRK). Im Interview erklärt er, wie sich die Situation in Syrien und der Türkei nach den Erdbeben vom 6. Februar 2023 entwickelt hat, welche Forderungen er an die deutsche Regierung stellt – und wieso er auch gegenüber dem syrischen Diktator Assad neutral bleibt.
Herr Johnen, das Erdbeben vor einem Jahr im Südosten der Türkei und in Syrien war eine der schlimmsten Naturkatastrophen der vergangenen hundert Jahre. Wie ist die Lage dort heute?
Christof Johnen: Fast 18 Millionen Menschen waren von diesem Erdbeben betroffen, über 50.000 verloren ihr Leben, und mehr als 280.000 Gebäude wurden beschädigt – ein Ausmaß von enormer Tragweite. Im Ahrtal konnten wir auch in Deutschland aus erster Hand erleben, mit welchen Herausforderungen ein solches Extremereignis einhergeht. In Syrien und der Türkei stehen wir jedoch vor einer gänzlich anderen Dimension. Die Anzahl der Betroffenen und das Ausmaß der Schäden sind unvergleichlich größer. Die Herausforderungen bleiben auch nach der Soforthilfe-Phase bestehen. Es gilt aber, fein zu differenzieren zwischen der Türkei und Syrien. In der Türkei waren zwar deutlich mehr Menschen betroffen, doch hier steht eine staatliche Struktur dahinter, die über Ressourcen und Kapazitäten verfügt. Die Möglichkeiten für den Wiederaufbau sind somit größer als in Syrien.
Warum ist die Lage in Syrien verheerender als in der Türkei?
Seit über zwölf Jahren herrscht in Syrien ein bewaffneter Konflikt, und Teile des Landes werden von einer bewaffneten Opposition kontrolliert. Das gilt auch für die betroffenen Erdbebengebiete. Der Zugang dort gestaltet sich äußerst schwierig, und die Infrastruktur ist durch diesen langwierigen Konflikt bereits erheblich geschwächt, teilweise sogar zerstört. Insbesondere das Gesundheitswesen und die Basisinfrastruktur wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung sind stark betroffen. Das schwere Erdbeben hat damit eine bereits erschöpfte Bevölkerung getroffen, und die Aussichten sind in Syrien in der Tat äußerst dramatisch. Trotz der unterschiedlichen politischen Kontexte bleibt menschliches Leid zwar menschliches Leid – aber in Syrien ist dieses Leid wirklich sehr dramatisch.
Können Sie die Situation ein wenig konkretisieren? Was berichten Ihre Helfer von vor Ort?
Im Nordwesten Syriens, vor allem um Idlib herum, kontrolliert von der bewaffneten Opposition, lebten viele Menschen bereits vor dem Erdbeben in extrem beengten Verhältnissen – oft in Zelten oder überfüllten, instabilen Unterkünften. Das Beben zerstörte nicht nur zahlreiche fragile Häuser, sondern verschärfte auch die bereits instabile Infrastruktur. Die Bewohner mussten in ihren Notunterkünften noch enger zusammenrücken, was zu prekären hygienischen Bedingungen führte und das Risiko für Krankheiten, insbesondere für geschwächte Menschen, erhöhte. Dazu kommen Atemwegserkrankungen, weil sich das Erdbeben in der kalten Jahreszeit ereignet hat. Die Gesundheitssituation verschärfte sich durch diese Faktoren also erheblich und bleibt äußerst fragil. Der langanhaltende bewaffnete Konflikt hat gezielt viele Krankenhäuser zerstört, was zu einem Mangel an medizinischer Versorgung führt und die ohnehin schwierige Lage weiter verschärft.
In den türkischen Regionen wird, anders als in Syrien, intensiv am Wiederaufbau von zerstörten Gebäuden und der Infrastruktur gearbeitet. Sind Sie optimistisch für diese Region?
Es gibt zwar auch dort immer noch große Herausforderungen. Die Türkei hat meiner Meinung nach aber durchaus effektive Maßnahmen ergriffen. Eine bedeutende Rolle spielen dabei zahlreiche lokale Hilfsorganisationen, internationale NGOs und nicht zuletzt die sehr engagierte türkische Diaspora, einschließlich derer aus Deutschland.
In Deutschland gibt es aber auch eine signifikante syrische Diaspora…
Ja, das ist richtig. Allerdings ist diese Diaspora oft wirtschaftlich nicht so gut gestellt wie die türkische. Zusätzlich gestaltet sich der Zugang zu den Menschen, die dringend Hilfe benötigen, deutlich schwieriger als in der Türkei. Die Voraussetzungen für Hilfsmaßnahmen sind daher sehr unterschiedlich.
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"Die Stimmung in der Türkei ist im Großen und Ganzen positiv"
Warum ist es überhaupt so schwierig, Hilfe nach Syrien zu kriegen? Angesichts der desolaten ökonomischen Situation Syriens müsste die Assad-Regierung doch eigentlich über jede Hilfe, die nicht aus eigenen Finanzquellen finanziert werden muss, froh sein?
Die Grenzen nach Syrien sind äußerst schwer zu überqueren. Im Land dauern die Kampfhandlungen weiter an, insbesondere im Nordwesten, der vom Erdbeben stark betroffen ist. Schon vor dem Erdbeben gab es ja Diskussionen darüber, dass grenzüberschreitende Hilfe aus der Türkei nur über einen Grenzübergang möglich war, der durch eine UN-Resolution abgedeckt wurde. Dieser Grenzübergang war jedoch unmittelbar nach dem Erdbeben aufgrund von Straßenschäden nicht passierbar. Es ist daher vor allem logistisch erheblich komplexer, im Vergleich zu einem Land wie der Türkei in einem Land mit einem anhaltenden bewaffneten Konflikt Hilfe zu leisten.
Was tun Sie und Ihre Partnerorganisationen wie etwa der Syrisch-Arabische Rote Halbmond ganz konkret, um den Menschen in Syrien zu helfen?
Seit 2011 sind wir mit einer Präsenz vor Ort, was es uns gemeinsam mit unseren Schwestergesellschaften, dem Türkischen Roten Halbmond und dem Syrisch-Arabischen Roten Halbmond, ermöglicht hat, schnell und effektiv Hilfe zu leisten. Wir haben eigene Hilfsgüter ins Land gebracht, darunter grundlegende Hygieneartikel wie Handtücher, Shampoo oder Menstruationsprodukte, ebenso wie Matratzen und Decken. In Zusammenarbeit mit dem Libanesischen Roten Kreuz haben wir auch mobile Gesundheitseinheiten beschafft – umgebaute Transporter, die in den betroffenen Regionen Syriens die Gesundheitsversorgung sicherstellen, insbesondere wo Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen beschädigt wurden. Zusätzlich haben wir die logistische Abwicklung von über 300 Hilfsflügen nach Damaskus, Aleppo und Latakia unterstützt.
Wie reagiert die lokale Bevölkerung in der Türkei auf Ihre Hilfe?
Die Stimmung in der Türkei ist im Großen und Ganzen positiv, begleitet von häufig rührenden Rückmeldungen. Natürlich gibt es auch Frust und Unzufriedenheit, insbesondere aufgrund der langwierigen Wiederaufbauzeit. Menschen, die die Hilfe zwar zu schätzen wissen, aber einfach psychisch schwer traumatisiert sind, differenzieren nachvollziehbarerweise nicht immer genau, wer für welche Maßnahmen verantwortlich ist. Daher erfahren auch Helfende die gerechtfertigte Unzufriedenheit der Betroffenen. Trotzdem überwiegt insgesamt eine positive Resonanz. Die Lage in Syrien ist, wie eingangs beschrieben, noch schwieriger und angespannter, entsprechend gibt es mehr kritische Stimmen. Gleichzeitig erfahren wir aber auch hier viele positive Rückmeldungen.
Welche Kritik hören Ihre Helfer am häufigsten?
Insbesondere zu Beginn hörten wir oft die Kritik, dass die Hilfe gefühlt zu lange dauert oder nicht ausreichend ist. In den Anfangsphasen war es zum Beispiel eine große Herausforderung, abgelegene Gebiete zu erreichen. Heute hören wir vermehrt den Wunsch, dass der Wiederaufbau schneller gehen sollte. Das ist nachvollziehbar, jedoch nichts, was wir von heute auf morgen ändern können. Es sind übrigens häufig die freiwilligen Helfer, die selbst aus der Region stammen, welche das unmittelbare Feedback von der lokalen Bevölkerung bekommen.
Das Erdbeben fand kurz vor der Wahl in der Türkei statt. Präsident Erdogan wurde damals dafür kritisiert, die Situation für seinen Wahlkampf zu instrumentalisieren – und Hilfe zu blockieren oder bewusst gegen Organisationen zu agitieren. Hat sich diese Situation heute entspannt?
Ich kann definitiv feststellen, dass die politische Polarisierung seit der Wahl abgenommen hat. Damals hatte man gelegentlich den Eindruck, dass politische Aspekte im Vordergrund standen, anstatt die Hilfe effektiv voranzubringen. Die Kritik, dass die Hilfe nicht schnell genug in abgelegene Regionen gelangt, stieß aber auch auf natürliche Grenzen – das lag nicht an irgendeinem Unwillen. Anstatt den Fokus darauf zu legen, wie die Hilfe beschleunigt werden kann, stand die politische Diskussion häufig im Vordergrund. Zum Glück hat sich das heute verändert.
Welche Forderungen stellen Sie in Gesprächen an die deutsche Regierung? Was kann die Außenministerin auf politischer Ebene tun, um die Situationen in den Erdbebengebieten zu verbessern?
Natürlich führen wir Dialoge mit der Bundesregierung und haben ja auch finanzielle Unterstützung vom Auswärtigen Amt erhalten. In Bezug auf die Türkei betonen wir zum Beispiel die Notwendigkeit nachhaltiger und vorausschauender Katastrophenvorsorge. Im Hinblick auf Syrien appellieren wir schon seit Jahren an die Bedeutung des Zugangs zu allen betroffenen Menschen. Hier sind wir im Dialog mit der Bundesregierung, um ausreichende humanitäre Hilfe für den Nordwesten Syriens zu ermöglichen. Der humanitäre Bedarf in Syrien ist ja aktuell größer als während der Hochphase des bewaffneten Konflikts. Das Land liegt wirtschaftlich am Boden, Sanktionen und die Auswirkungen von Covid haben das Wirtschaftsleben weiter stark beeinträchtigt. Hohe Arbeitslosigkeit und Inflation stellen für die meisten Syrer eine enorme Herausforderung im täglichen Überleben dar. Ich bin aber nicht besonders optimistisch, dass sich hier kurzfristig etwas ändern wird. Dazu ist die Lage zu verhärtet.
Hilfsorganisationen wie das Deutsche Rote Kreuz betonen immer wieder ihre politische Neutralität. Wie schwierig ist es, diese Neutralität durchzuhalten, wenn es etwa um den syrischen Machthaber Assad geht, der für ein unendliches Leid in seinem Land verantwortlich ist?
Die Neutralität ist für uns ein operatives Instrument. Nicht weil wir glauben, dass neutral sein ein Wert ist. Sondern weil die Neutralität uns ermöglicht, Zugänge zu behalten und zu den Menschen zu kommen. Das ist unser Ziel: die Menschen mit Hilfe zu versorgen. Deshalb werden Sie von uns wenig öffentlich dazu hören. Das heißt aber nicht, dass wir nicht vor Ort mit Behörden sprechen, dass wir im vertraulichen Gespräch Probleme benennen und gemeinsam nach Lösungen suchen. Das ist herausfordernd, aber Teil unserer Arbeit in vielen bewaffneten Konflikten.
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Über den Gesprächspartner
- Christof Johnen leitet die internationale Arbeit beim DRK.
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