Jeder sechste Bewohner der Türkei war betroffen, als am 6. Februar 2023 im Südosten des Landes die Erde bebte. Die Katastrophe hatte verheerende Ausmaße. Was hat sich seitdem getan und welche Folgen hatte die Katastrophe für das System Erdogan?
"Das Jahrhunderterdbeben betraf elf Provinzen mit einer Gesamtfläche von rund 108.000 Quadratkilometern und einer Bevölkerung von über 13,4 Millionen Menschen", sagt Yunus Ulusoy von der Stiftung "Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung", einem Institut an der Uni Duisburg-Essen. Dieses Ereignis kam für die Menschen ganz überraschend in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 2023. Sie wurden plötzlich aus dem Schlaf gerissen. Viele wurden in ihren Häusern verschüttet, starben gleich noch in dieser Nacht oder in der Folgezeit. Andere konnten gerade noch so mit ihrem Leben davonkommen.
Doch damit war der Schrecken für die Menschen noch nicht vorbei. Denn in den Tagen und Wochen danach gab es viele Nachbeben, die zu weiteren Schäden führten, Gebäude unbewohnbar machten und Menschen in Angst versetzten. Auf türkischer Seite sind der dortigen Regierung zufolge mehr als 200.000 Gebäude eingestürzt oder stark beschädigt worden.
Auch im Nachbarland Syrien bebte die Erde. Seit Jahren leiden die Menschen dort unter den Folgen des Krieges, das Erdbeben kam nun auch noch dazu. Wegen des Bürgerkrieges gibt es von dort nur wenig verlässliche Informationen, die sich nicht leicht überprüfen lassen.
Letztlich verloren bei dem Erdbeben mit der Stärke von 7,8 auf der Richterskala mehr als 56.000 Menschen ihr Leben.
Wiederaufbau in der Türkei zieht sich hin
Schon wenige Tage nach dem Erdbeben in der Türkei versprach Präsident Recep Tayyip Erdogan einen schnellen Wiederaufbau des Landes und vor allem einen zügigen Wohnungsbau. Seitdem ist ein Jahr vergangen. "Nach Berichten von Menschen vor Ort und Aussagen staatlicher Stellen ist der Wiederaufbau in vollem Gang und niemand steht ohne Unterkunft da, auch wenn diese aus Zelten oder Containern besteht", sagt Yunus Ulusoy. Doch gerade in solchen Unterkünften sei die sanitäre Versorgung unzureichend. Teilweise gebe es Probleme mit der Trinkwasserversorgung, worunter insbesondere Kinder und Frauen leiden würden, sagt Ulusoy. Besonders die Hygienesituation für Frauen sei mangelhaft, da in diesen engen und überfüllten Zeltstädten nur zentrale sanitäre Einrichtungen vorhanden seien.
Ein weiteres Problem stelle fehlende schulische Versorgung dar, so der Türkeiexperte. Dies liege daran, dass noch immer viele Schulgebäude beschädigt seien oder gegenwärtig zu einem anderen Zweck genutzt würden. Besonders betreffe dies ländliche Räume, in denen solche Infrastrukturen bereits vor den Erdbeben nur begrenzt vorhanden gewesen seien. Der Wiederaufbau dürfte sich demnach noch lange hinziehen.
Die Hilfsorganisation Care warnt derweil davor, dass internationale Organisationen aufgrund finanzieller Kürzungen weniger dazu in der Lage seien, ihre Hilfe aufrechtzuerhalten. Daher müsse die internationale Staatengemeinschaft die Unterstützung der Erdbebengebiete auch langfristig sichern, wie die Direktorin von Care-Türkei, Rishana Haniffa, im Domradio fordert.
Erdbeben hat Erdogans Ansehen nicht überall geschadet
Unmittelbar nach dem Erdbeben wurde Kritik laut, dass viele Gebäude nicht erdbebensicher gewesen seien und in schlechter Qualität gebaut wurden. Auch wurden der Regierung Vorwürfe gemacht, weil sie in den letzten Jahren Hunderttausende Schwarzbauten nachträglich legalisiert hatte, um Wohnraum zu schaffen, wie die Berliner Morgenpost berichtete. Viele genau dieser Wohnungen stürzten bei dem Erdbeben ein.
Doch als dann im letzten Jahr in all der Zerstörung und dem Leid auch noch die Präsidentschaftswahl abgehalten wurde, ergab sich ein ganz anderes Bild. Präsident Erdogan konnte den Urnengang in der Stichwahl für sich entscheiden. Es gelang ihm, bei der zweiten Wahlrunde zum Präsidentenamt im Mai 2023 in der Erbebenregion an Stimmen zuzulegen. In der besonders stark betroffenen Region Hatay gewann Erdogan in der Stichwahl am Ende sogar.
"Die Türkei ist ein tief gespaltenes Land", sagt Yunus Ulusoy. Erdogans Gegner sehen die Lage entsprechend kritisch. Erdogans Anhänger würden aber der Zentralregierung in Ankara weiter vertrauen. Zudem seien auch Provinzen bei dem Erdbeben betroffen gewesen, in denen die Opposition den Bürgermeister und die Mehrheit im Stadtrat stelle, sagt Ulusoy. Dies sei etwa in der Provinz Hatay der Fall gewesen.
Erdbeben wird wohl bei den kommenden Kommunalwahlen keine Rolle spielen
Entscheidend sei aber noch ein anderer Aspekt, wenn es Schuldzuweisungen und Verantwortlichkeiten gehe. Denn das Ausmaß des Erdbebens sei so groß gewesen, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht damit rechnete, dass der Staat darauf vorbereitet sein könnte, sagt Ulusoy. Dass nicht genügend Gebäude erdbebensicher waren, sei ein gesamtgesellschaftliches Problem.
Zwar sei der Zentralstaat als Aufsichtsinstanz zuständig und versage hier. Aber die Missstände wiederholten sich auch auf lokaler Ebene, unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Private Baufirmen, aber auch Hausbesitzer würden "mehr in den Kategorien Gewinn und Kosten als in der Kategorie Sicherheit denken", erklärt der Türkeiexperte.
Dass die Folgen des Erdbebens bei der kommenden Kommunalwahl in der Türkei im März eine Rolle spielen könnten, daran glaubt Ulusoy nicht. Das Thema sei auf der politischen Agenda nur von nachrangiger Bedeutung.
Nicht mal die Opposition skandalisiere bisher den mangelnden Wiederaufbau. Es könnte sogar ein ganz anderer Effekt eintreten, sagt Ulusoy: dass die Kandidaten von Erdogans AKP am Ende profitieren könnten. Denn im zentralistischen Staatsaufbau mit dem türkischen Präsidialsystem liege die Macht bei Präsident Erdogan und seiner Regierungsadministration. Kandidaten der AKP könnten, so glaubt Ulusoy, im Wahlkampf damit zu überzeugen versuchen, dass sie aufgrund der Nähe zu Erdogan und dessen Führungsebene schneller an öffentliche Mittel kommen würden als Vertreter der Oppositionsparteien.
Über den Gesprächspartner:
- Yunus Ulusoy ist Programmverantwortlicher für „Migration und Integration im grenzüberschreitenden Raum Deutschland-Türkei“ der Stiftung „Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung“ des Landes Nordrhein-Westfalen an der Universität Duisburg-Essen.
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