- Die Bundesregierung hat die Deutschen zum Gas-Sparen aufgefordert.
- Doch vielerorts sind die Grenzen des Möglichen schon ausgereizt.
- Was ist noch möglich?
Noch wächst die Zahl, die die Deutschen beschäftigt wie keine andere: An diesem Freitag waren die Gasspeicher zu rund 63,2 Prozent gefüllt. Auch wenn Deutschland im europäischen Vergleich großzügig mit Gasspeichern ausgestattet ist, reicht dieser Füllstand zwar vorne und hinten nicht, um ohne russische Gasimporte, ohne Lieferengpässe und ohne Wärmflaschen durch die Wintermonate zu kommen. Doch dass sich die Gasspeicher immer noch füllen, nährt zumindest die Hoffnung, dass es am Ende nicht so schlimm werden könnte.
Ob die Hoffnung berechtigt ist, könnte sich am 11. Juli entscheiden – einem Montag, den sich fast alle, die sich in Europa mit Energie beschäftigen, dick im Kalender angestrichen haben. An diesem Tag beginnt eine turnusmäßige Wartung der wichtigen Nord Stream 1-Pipeline, die es bereits in den letzten Jahren ohne Zwischenfälle gegeben hat und die normalerweise zwischen zehn Tagen und zwei Wochen dauert.
Dieses Jahr gibt es in Europa die Sorge, dass die Wartung Russland einen passenden Vorwand liefern könnte, um die Versorgung über diese wichtige Ader des europäischen Gasnetzes einzustellen. Putins Techniker, so der Verdacht, könnten zum Beispiel Schäden an der Pipeline finden, den Wartungszeitraum strecken und elegant auf die Nord Stream 2-Pipeline verweisen, die technisch einsetzbar wäre, aber wegen des Ukraine-Kriegs nicht in Betrieb genommen wurde. Dieses Angebot könnte keine Regierung in Europa annehmen – der Gas-Stopp wäre da.
Partnerstaaten könnten russischen Gas-Stopp teilweise kompensieren
Die Folgen einer solchen Eskalation wären nach Einschätzung der meisten Experten verheerend. Alle Importeure müssten den Brennstoff ersatzweise auf dem Weltmarkt besorgen, zu deutlich höheren Preisen, was einen Zusammenbruch des europäischen Energiemarktes verursachen könnte. Gleichzeitig käme es zu Lieferengpässen, weil das europäische Gasnetz zahlreiche Engstellen hat. Auch wenn Länder wie Norwegen oder die Niederlande theoretisch einen Teil des russischen Gases substituieren könnten, kann das Gas nicht beliebig zwischen den europäischen Staaten hin- und herfließen.
Die Bundesregierung bemüht sich deshalb händeringend, Gas auf anderen Wegen nach Deutschland zu schaffen, sei es über Lieferverträge mit Katar oder schwimmende LNG-Terminals in der Nordsee. Vieles spricht dafür, dass es sich bei all diesen Versuchen, einen russischen Gas-Stopp zu kompensieren, um mittelfristige Lösungen handelt, die nicht verhindern würden, dass Privatverbraucher und Industrie in diesem Winter empfindliche Blessuren erleiden. Dass Deutschland im Fall der Fälle einen Gutteil der Gasversorgung über die eingespeicherte Menge beziehen muss, ist daher ein Grund, warum die Bundesregierung die Bürger derzeit hochoffiziell mit Duschtipps versorgt.
Doch wie viel Erdgas lässt sich überhaupt noch sparen, ohne dass Menschen frieren oder ganze Industrieparks stillstehen müssen? Dazu lohnt ein Blick auf die Statistik, in welche Sektoren der wichtige Brennstoff überhaupt fließt. Der größte Verbraucher ist die Industrie, die rund 37 Prozent des Erdgases nutzt, etwa für die Erzeugung von Kunststoff, Düngemitteln oder Klebern. Große Verbraucher sind etwa die Papierherstellung oder die Autoindustrie, für deren spezifische Trocknungsprozesse Gas verwendet wird. Besonders gasintensiv ist die Chemie, in der rund 39 Prozent des genutzten Erdgases als Rohstoff stecken.
"Die größten Einsparpotenziale stecken in der Industrie", erklärt Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. "Zum einen können deutlich effizientere Produktionsverfahren dazu beitragen, den Gasverbrauch zu reduzieren. Zum anderen können aber auch Produktionsverfahren kurzfristig gedrosselt, Vorprodukte importiert oder sogar auf andere Energieweisen zurückgegriffen werden." Zur Herstellung von Prozesswärme, wie sie beim Metallgießen zum Einsatz kommt, könnten statt Gas nachhaltige Biomasse oder großindustrielle Wärmepumpen beitragen – und in Zukunft grüner Wasserstoff.
Industrie spart kräftig
Um die Notwendigkeit zum Sparen zu erkennen, brauchte die Industrie eine Weile. Das lässt sich etwa aus den Erzählungen des Bundesnetzagentur-Präsidenten Klaus Müller ableiten, der schon im Frühjahr mit Sparappellen durch die Talkshows tingelte, als Politiker aller Couleur sich noch mit der Forderung nach einem Gasboykott einließen. Müller berichtete in diesen Frühlingstagen, dass ihn jeden Tag hunderte von Nachrichten erreichten, in denen Lobbyisten ihm erklärten, weshalb gerade ihr Industriezweig auf keinen Kubikmeter Gas verzichten könne. Freiwillige, die Gaseinsparungen ankündigten, habe es dagegen kaum gegeben. Dazu muss man wissen: Müllers Behörde entscheidet im Fall der Fälle, welche Industrie noch Gas bekommt und welche nicht.
Doch in den letzten Monaten hat sich etwas getan. Die Industrie gehört mittlerweile zu den eifrigsten Sparern. 14,3 Prozent weniger Gas wurden im Vergleich zum Vorjahr zwischen Januar und Mai verbraucht, hat kürzlich der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) berechnet. Begünstigt wurde das zwar durch die vergleichsweise milde Witterung. Doch rechnet man die hohen Temperaturen in diesem Jahr mit ein, liegt der Verbrauch immer noch ein Zehntel unter dem Vorjahresmonat. Das Einlenken der Industrie mag zwar auch einem Verantwortungsgefühl geschuldet sein. Doch zu einem Gutteil liegt es an den hohen Gaspreisen. Der Spotmarktpreis für Erdgas hatte sich im Frühling zwischenzeitlich binnen kurzer Zeit mehr als verdreifacht.
Klar ist auch, dass die Industrie ihren Gashunger nicht unendlich zügeln kann. Das betrifft insbesondere jene Industrien, in denen Gas als Rohstoff gebraucht wird. Unternehmen wie der Chemieriese BASF haben eine Grenze, unter die die Gasversorgung nicht fallen darf, ohne dass sie ihre Parks in Ludwigshafen oder Frankfurt-Höchst stilllegen muss. Diese Grenze liegt nach Angaben des BDEW bei rund vier Prozent an Einsparung. Andere Branchen wie die Metallindustrie oder die Nahrungsmittelhersteller könnten hingegen teilweise auf erheblich größere Mengen verzichten.
Deutlich schwammiger liegt die Grenze bei den Privatverbrauchern, die in Deutschland rund 31 Prozent des Gases verbrauchen. Weil rund die Hälfte aller Wohnungen in Deutschland mit Gas beheizt wird, bemisst sich das, was gespart werden kann, vor allem daran, welche Einbußen die privaten Verbraucher beim persönlichen Komfort einzugehen bereit sind. "Jeder Grad Raumtemperatur weniger spart rund sechs Prozent Gas", erklärt Volker Quaschning, Spezialist für regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. "Die Reduktion der Raumtemperatur hilft also."
Staatlich verordnen lässt sich eine solche Maßnahme jedoch nicht. Eine Thermostat-Polizei, die in Wohnzimmern die Raumtemperatur kontrolliert, wird es nicht geben, genauso wenig wie einen Gas-Stopp in Privatwohnungen. Eine EU-Richtlinie sieht vor, dass in einer Mangelsituation Industriebetriebe vor den Privatverbrauchern rationiert werden. Im schlimmsten Fall verlieren Menschen also ihre Arbeitsplätze – und die Wohnzimmer blieben warm. Allen Forderungen seitens der Industrie, dieses Prinzip zu verwässern, ist die Bundesregierung bislang entgegengetreten.
Gaspreis könnte Verbraucher überfordern
Dennoch könnte ein anderer Mechanismus dazu führen, dass die Wärmflasche ohne staatliche Verordnung bald wieder en vogue werden könnte: "Erst einmal werden die Gaspreise weiter empfindlich ansteigen, was einzelne Menschen überfordern könnte", so Quaschning. Am niederländischen Großhandels-Referenzmarkt TTF kostete eine Megawattstunde zur Lieferung im August am Dienstagvormittag zeitweise mehr als 175 Euro – und damit nochmals 27 Euro mehr als zu Ende der vergangenen Woche.
Gerade Geringverdiener werden sich unter diesen Umständen die Gasrechnung nicht mehr leisten können. In Sachsen hat bereits eine Wohnungsgenossenschaft wegen der hohen Preise die Versorgung von rund 300 Wohnungen mit Warmwasser verringert. Damit aus der Versorgungskrise keine Dauerkrise wird, rät Quaschning deshalb: "Die Gasheizung ist nicht gottgegeben. Deshalb sollte die Gasheizung so schnell wie möglich durch eine umweltverträgliche Wärmepumpe ersetzt werden."
Verwendete Quellen:
- TheIce.com - Dutch TTF Gas Futures
- Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft - Sinkender Gasverbrauch: Ein Drittel weniger Gas
- Twitter-Account der Bundesnetzagentur (Abruf der Gasspeicher-Stände am 5. Juli 2022)
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