Jean-Claude Juncker, ehemaliger Präsident der Europäischen Kommission, legt den Finger in gleich mehrere Wunden: Die EU verlasse sich in Sachen Verteidigung zu sehr auf die USA, mache der Ukraine falsche Hoffnungen auf einen schnellen Beitritt und zeige zu wenig Kante gegenüber Rechtspopulisten und Rechtsextremen, sagt er.
Ob er die deutsche Wortschöpfung Unruhestand kenne?
Herr Juncker, zu Ihrer Zeit als aktiver Politiker hatten Sie ein freundschaftliches Verhältnis zu Russlands
Jean-Claude Juncker: Ich fühle mich getäuscht und bin enttäuscht, auch massiv überrascht, weil der russische Überfall auf die Ukraine sich nicht im Spektrum meiner Erwartungen bewegte. Damit muss ich mich leider abfinden.
Tut die EU aus Ihrer Sicht genug, um die Ukraine zu unterstützen?
Die EU hat mit den vorhandenen politischen Mitteln adäquat reagiert. Es ist Putin nicht gelungen, die Mitgliedstaaten dramatisch auseinanderzudividieren.
Aber die ukrainische Armee steht massiv unter Druck. Sie muss Munition rationieren, weil die EU nicht wie versprochen binnen eines Jahres eine Million Schuss geliefert hat.
Das bedaure ich. Das kommt jetzt verspätet, aber immerhin.
Kein Verständnis für Scholz' kategorisches Nein zu Taurus-Lieferungen an Ukraine
Deutschlands Kanzler Scholz weigert sich, der Ukraine Marschflugkörper vom Typ Taurus zu überlassen. Haben Sie dafür Verständnis?
Dass er das definitiv ausschließt, verstehe ich nicht. Aber ich ziehe einen nachdenklichen deutschen Bundeskanzler einem sich kriegerisch gebärdenden vor.
War es richtig, den Prozess zum Beitritt der Ukraine zur EU zu starten?
Es war ohne Zweifel richtig, der Ukraine den Kandidatenstatus zuzuerkennen. Es war ohne Zweifel falsch, der Ukraine Hoffnung zu machen, dass sie schnell beitreten könnte. Ich habe viele Beitrittswellen erlebt und weiß um die Schwierigkeiten von Beitrittsverhandlungen. Die unterschätzt man. Hoffnungen werden aufgebläht, Probleme kleingeredet.
Was genau wird unterschätzt?
Es gilt, zehntausende Seiten Rechtsvorschriften in das nationale Recht zu integrieren. Das bedarf einer gewaltigen Anstrengung. Außerdem hat die Ukraine ein immenses Problem mit Korruption. Sie kommt voran bei der Bekämpfung, aber nicht schnell genug.
Bis wann halten Sie den Beitritt für realistisch?
Bei den ost- und mitteleuropäischen Demokratien hat es zehn Jahre gedauert. Es gibt ein derartiges Dickicht an nicht gelösten Problemen in der Ukraine und in Europa, dass ich mich weigere, überhaupt einen Zeithorizont zu nennen.
Wenn Sie von Problemen auf Seiten der EU sprechen: Woran denken Sie konkret?
Zum Beispiel an die Integration des ukrainischen Agrarraumes in die europäische Agrarpolitik. Mit dem Beitritt der Ukraine würde sich die landwirtschaftlich genutzte Fläche in der EU um fast ein Viertel vergrößern. Weil Subventionen überwiegend nach Fläche vergeben werden, erwächst daraus ein Anspruch auf Geld, das die EU nicht hat. Schon jetzt tut sich die Mitgliedsstaaten schwer, den EU-Haushalt zu erweitern.
Von der Ukraine sind wir schnell bei der Verteidigungspolitik. Im Wahlprogramm der EVP heißt ein Kapitel "Für ein Europa, das sich verteidigen kann". Ist Europa derzeit also aufgeschmissen?
Wir sind nur bedingt verteidigungsfähig, weil wir die Mittel seit den 90er-Jahren massiv nach unten geschraubt haben und weil wir nicht eng genug zusammenarbeiten. Wir haben in Europa 174 Waffengattungen, die Amerikaner haben 30. Wir haben an die 30 Panzertypen, die Amerikaner einen. Wenn wir die Verteidigungsausgaben der Mitgliedsstaaten zusammenrechnen, kommen wir auf 50 Prozent des amerikanischen Verteidigungshaushalts. Wenn wir das mit der Lupe der Effizienz bewerten, bringen wir es aber nur auf 15 Prozent.
Sehen Sie die Bereitschaft, mehr Geld für Verteidigung hinzulegen?
Die Amerikaner erwarten von uns nicht erst seit Trump, sondern seit Bush, dass wir uns mehr einbringen. Insofern gibt es keine andere Option. Auch wenn es mich traurig macht, dass wir hier über Waffen reden müssen.
Trump hat sogar davon gesprochen, Nato-Staaten mit geringen Verteidigungsausgaben nicht schützen zu wollen.
Ob Trump Präsident wird oder nicht: Amerikas Sicherheitsinteressen liegen vornehmlich im pazifischen Raum, nicht in Europa. Das nimmt hier nur kaum einer zur Kenntnis.
Kommissionspräsidentin von der Leyen hat vorgeschlagen, einen EU-Kommissar für Verteidigung zu installieren. Ist das zielführend oder nur ein weiterer Posten?
Ich bin für den Posten, aber er ersetzt keine Politik. Er ergibt nur Sinn, wenn gleichzeitig eine nicht nur embryonale europäische Verteidigungspolitik entsteht.
Zentrales Projekt von Kommissionspräsidentin von der Leyens ist der Green Deal, mit dem Europa bis 2050 klimaneutral werden soll. In der EVP schwindet seit einiger Zeit der Rückhalt dafür. Wo stehen Sie?
Der Klimawandel ist eine Weltkrise. Man kann nicht so tun, als ob es die Notwendigkeit, ihn zu bekämpfen, nicht gäbe. Aber Teilelemente des Green Deal muss man nochmal unter die Lupe nehmen und Abstriche machen, wo die Regeln übertrieben sind.
Kommt man mit ja, aber … einer Weltkrise bei?
Ein Beispiel: Dass die EU Bauern zwingt, vier Prozent ihrer Fläche brachliegen zu lassen, ist aus meiner Sicht nicht vermittelbar und auch nicht notwendig.
Brachen dienen Tieren als Nahrungsquelle und Brutplatz …
… aber für die Bauern bedeuten vier Prozent Brache vier Prozent weniger Gewinn. Den Großen macht das vielleicht nichts aus, den Kleinen sehr wohl.
Juncker: Zuwanderer gerecht auf alle 27 Staaten verteilen
Bei einem anderen zentralen Thema, der Migration, haben die EU-Staaten nach jahrelangem Ringen einen Kompromiss gefunden. Stärkerer Grenzschutz, Verfahren an den Außengrenzen – begrüßen Sie das?
Klar ist für mich: Illegale Einwanderung können wir nicht dulden, aber Europa muss ein Ort bleiben, an dem Verfolgte Schutz finden. Und ich bin noch immer der Meinung, dass es richtig wäre, die Flüchtlinge gerecht auf alle 27 Mitglieder zu verteilen, statt es einzelnen Ländern zu ermöglichen, sich dem zu entziehen.
Der EVP geht der Kompromiss nicht weit genug. Sie fordert Abkommen mit Drittstaaten, die es ermöglichen sollen, alle irregulären Migranten dorthin abzuschieben und nur noch eine begrenzte Anzahl besonders Schutzbedürftiger aufzunehmen.
Meine luxemburgische Partei hat gegen diesen Passus im Wahlprogramm gestimmt und ich gebe ihr Recht.
Fischt die EVP da am rechten Rand?
Man darf extreme Positionen nicht nachäffen. Viele in der EVP tun es trotzdem, Sozialisten und Liberale auch, Grüne zunehmend auch.
EVP-Chef Weber will mit Italiens Ministerpräsidentin Meloni von der postfaschistischen Fratelli d’Italia zusammenarbeiten. Auch von der Leyen schließt das nicht aus. Zu Ihrer Position passt das nicht.
Bislang benimmt sich Frau Meloni im europäischen Konzert recht vernünftig. Aber man muss sie nach dem bewerten, was sie im Wahlkampf versprochen hat. Insofern kommt eine Zusammenarbeit mit ihr und ähnlichen Kräften für mich nicht infrage.
Umfragen zufolge könnten die Rechtspopulisten und Rechtsextremen im Europaparlament rund ein Drittel an Sitzen dazugewinnen. Was ist Ihr Rezept gegen den Rechtsruck?
Klarzumachen, wie ein Europa aussehen würde, in dem 27 rechtsextreme Parteien regieren: Ein von Fremdenhass geprägter Kontinent, der keinen Klimaschutz betreibt, Putin applaudiert und auf dem statt gesundem Patriotismus nur Gegeneinander herrscht. Würden wir uns in einem solchen Europa wohlfühlen?
Zur Person:
- Jean-Claude Juncker ist ein luxemburgischer Politiker der christdemokratischen CSV, die im Europaparlament zur Europäischen Volkspartei EVP gehört.
- Juncker war lange Premierminister von Luxemburg (1995 bis 2013) und der Vorgänger von Ursula von der Leyen an der Spitze der Europäischen Kommission (2014 bis 2019).
- Einen ausführlichen Steckbrief finden Sie hier.
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