Wie gefährlich ist Opposition gegen Wladimir Putin? Darüber diskutierten die Gäste von Anne Will am Mittwoch. Spekulationen, wer hinter dem Mord an Boris Nemzow steckt, verkniffen sich die Diskutanten zwar. Doch Kritik am russischen System und seinem Präsidenten gab es reichlich. Nur einer wollte dies nicht gelten lassen.

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Der Mord an Boris Nemzow und die Frage, wie gefährlich Gegner von Wladimir Putin in Russland leben, beschäftigte die Talkrunde von Anne Will am Mittwoch. Über das Attentat sprachen Norbert Röttgen (Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags, CDU), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (ehemalige Bundesjustizministerin, FDP), Dmitri Tultschinski (russischer Journalist), Boris Reitschuster (Journalist und Autor) und Dietmar Bartsch (Stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Linken).

Schnell waren sich alle einig, den Mord zu verurteilen, eine Aufklärung zu fordern, Spekulationen aber über den oder die Schuldigen beziehungsweise die Hintermänner lieber bleiben zu lassen. Andeutungen und geschickte Fragestellungen, die Interpretationen beziehungsweise Spekulationen Raum boten, gab es dennoch.

Attentat auf Boris Nemzow "war Symbolmord"

So steht für Boris Reitschuster außer Frage, dass es sich bei dem Attentat um einen Symbolmord handelt. Das sagte der Russlandkenner auch zuvor in einem Interview mit unserem Portal. Nemzow habe ihm zuvor gesagt, dass er Angst habe, umgebracht zu werden, weil er Putin beschimpfte.

Auch für Röttgen ist der Mord ein deutliches Signal an andere Oppositionspolitiker. Zum ersten Mal sei ein Politiker umgebracht worden und das signalisiere, dass Putin-Gegnern nun nicht mehr nur Gefängnis drohe, so Röttgen. Im Attentat sieht Leutheusser-Schnarrenberger viel Symbolik, vor allem weil Nemzow an einem Tag umgebracht wurde, als vor einem Jahr das Parlament in der Krim besetzt wurde. Zuletzt hatte Nemzow immer wieder die Ukraine-Politik Russlands kritisiert.

Der Politiker bezeichnete Putin in einem TV-Interview als Mafioso. Er prangerte die Gesetzeslosigkeit an. Ein klassischer Mafiastaat mit Putin an der Spitze. Nemzow gab auch Ausblick darauf, was Putin angeblich will: Kiew, Moldau, dann Polen, dann die baltischen Staaten. Er sei ein Räuber.

Reitschuster, der den Kreml-Kritiker gut kannte, berichtete, das Nemzow auf übelste Art verunglimpft wurde. Es habe Plakate gegeben, auf denen er als Faschist dargestellt wurde. "Boris hatte riesige Angst."

Leutheusser-Schnarrenberger erklärte der Runde, dass in Russland ein Klima von Hass und Diffamierung herrsche. Für das gebe es "eine politische Verantwortung". Oppositionelle würden als Vaterlandsverräter an den Pranger gestellt. "Diese Menschen sind vogelfrei", sagte die Politikerin. Das könne Übergriffe begünstigen, weil damit die Hemmschwellen sinken.

In Russland werden Oppositionskritiker auch als 5. Kolonne bezeichnet. Die Kampagne sei Leutheusser-Schnarrenberger zufolge gesteuert. Dmitri Tultschinski ließ dies nicht gelten. Dem russischen Journalisten zufolge lässt Putin Kritik zu. Anne Will wollte dies dem Kreml-treuen Journalisten nicht durchgehen lassen und verwies auf seine eigene Tätigkeit für eine staatliche Nachrichtenagentur und darauf, dass journalistische Berichterstattung in Russland nicht wirklich frei sei. Auch Reitschuster hielt dagegen. Es habe viele Fälle gegeben, in denen Journalisten gekündigt hätten und gefeuert worden seien.

Auch Röttgen fand deutliche Worte. Er sieht in der Erzeugung von Aggression nach außen und nach innen über das staatliche Fernsehen ein großes Problem. Das gehe von Putin aus. Das ist ein zentrales Element seiner Machtausübung. Propaganda und geheimdienstliche Aktivitäten seien die Werkzeuge Putins, um sich an der Macht zu halten. Er habe das Klima in Russland verändert, vergiftet.

Ist Wladimir Putin alles zuzutrauen?

Handelt es sich dabei um bösartige Unterstellungen oder ist dem System Putin alles zuzutrauen? An dieser Fragestellung schieden sich die Geister. Vor allem Russland-Experte Boris Reitschuster und der Moskau-treue Journalist Dmitri Tultschinski gerieten immer wieder aneinander.

Die russische Politik unterscheide sich ganz erheblich von der deutschen, so Reitschuster. In Moskau "sind die Symbole ganz entscheidend". Als Beispiele führte er Bilder von Putin mit nacktem Oberkörper und Gewehr auf einem Pferd an oder Putin als Tigerbändiger. Putin spiele virtuell mit der Angst der Russen, die nach der Stalinzeit da sei.

Dmitri Tultschinski hielt dagegen. Er warf Reitschuster Aufbauschung des Themas vor. Der russische Journalist behauptete, dass Nemzows Beschimpfung auf Putin keinen Eindruck gemacht hätten.

Die Moderatorin Anne Will fragte Tultschinski ganz klar, ob Oppositionelle, die Putin kritisieren, mit ihrem Leben spielten. Dieser Frage wollte er zunächst ausweichen. "Nein, der spielt nicht unbedingt mit seinem Leben", sagte Tultschinski dann aber. Diese Aussage ließ die anderen Diskutanten aufhorchen. Was mit "nicht unbedingt" gemeint sei, dies ließ der russische Journalist aber offen. Er warf im Anschluss dem Westen einen einseitigen Umgang mit Russland vor: "Gerade die Deutschen sind sehr oberlehrerhaft", klagte Tultschinsk.

Wladimir Putin von Nationalisten unter Druck?

Dietmar Bartsch sieht für das Klima der Angst auch den Kreml in der Verantwortung. "Das ist unbestritten", sagte Bartsch. Aber es gebe dafür noch mehrere Ursachen. Für Bartsch ist es nicht die Opposition, die Putin am meisten Druck macht. Putin wird in besonderer Weise von Nationalisten kritisiert, die ihn als zu liberal, als zu weich ansehen.

Reitschuster berichtete schließlich von eigenen Erfahrungen. Er sei selbst schon von Polizisten angegriffen worden und es habe immer wieder Berichte über Übergriffe gegeben. "In dem Staat wird jeden Tag massiv Recht gebrochen", so Reitschuster.

Zum Ende der Sendung wurde dann noch auf die Umfragewerte für Putin eingegangen. Reitschuster hält die Zustimmungsrate von 86 Prozent viel zu hoch. Eine Mehrheit hält er aber für möglich, nur nicht in dieser Größenordnung. Bartsch sieht das anders. Für ihn hat Putin eine Solidarisierung mit der Bevölkerung erreicht. Es sei vor allem ein Erfolg der innerrussischen Propaganda: "Die Feindbild-Rhetorik von Putin erzeugt ein Gefühl von Stolz". Er habe Erfolge. Wirklich darüber zu streiten, kamen die Diskutanten dann kaum mehr. Der innerpolitische Erfolg Putins als Thema wird hoffentlich bald einer weiteren Sendung diskutiert.

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