Nach den jüngsten Äußerungen des grünen Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer hat sich die Parteispitze von ihm distanziert. Der 47-Jährige selbst zeigt sich enttäuscht – und bekommt Rückhalt vom grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann.

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Kein anderer Oberbürgermeister hat in den vergangenen Jahren so beständig bundesweit für Schlagzeilen gesorgt wie Boris Palmer. Seit 2007 führt der Grünen-Politiker die Amtsgeschäfte von Tübingen. Große Kreisstadt, 90.000 Einwohner und eine weit über die Landesgrenzen bekannte Exzellenzuniversität.

Palmers Partei hat seine oft provokanten Äußerungen stets mit Grummeln verfolgt, zog aber bisher keine Konsequenzen.

Anders nach seiner jüngsten Äußerung im Sat1-Frühstücksfernsehen ("Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären"): Die Parteispitze um Annalena Baerbock und Robert Habeck entzog ihm am Montag jegliche Unterstützung.

Sollte Palmer im Jahr 2022 in Tübingen zur Wiederwahl antreten, darf er auf keine finanzielle oder logistische Hilfe seiner Partei mehr hoffen. Um einen Parteiausschluss, wie er von vielen Grünen gefordert wurde, scheint er allerdings herumzukommen. Innerhalb der Partei rumort es dennoch weiterhin.

"Ich habe nie getan, was man mir vorwirft"

"Ich bin sehr enttäuscht, denn ich habe nie getan, was man mir vorwirft", erklärt Palmer auf Anfrage unserer Redaktion zur Entscheidung des Bundesvorstands.

Der 47-Jährige betont: "Ich habe grüne Grundwerte verteidigt und nicht missachtet." Ihm sei es um "internationale Solidarität" gegangen. "Wir müssen unsere Alten und Kranken besser schützen, ohne dafür die Kinder in den ärmsten Ländern zu opfern." Deren Leben werde durch die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns bedroht, bemerkt Palmer.

Einen Parteiausschluss hält er für ausgeschlossen. Dieser sei mit den Grundwerten der Grünen "unvereinbar".

Kretschmann: "Das muss man aushalten"

Der grüne Europaparlamentarier Erik Marquardt sieht das anders. "Boris Palmer gehört nicht mehr zur grünen Familie", sagt Marquardt auf Anfrage unserer Redaktion. Er betont: "Ein Parteiausschlussverfahren muss sorgfältig geprüft werden, da die Hürden für Parteiausschlüsse sehr hoch sind. Wenn es eine rechtliche Möglichkeit gibt, sollte sie genutzt werden."

Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann hält hingegen die Aufregung innerhalb seiner Partei für übertrieben. Palmer bekleide kein einziges Parteiamt, sondern sei ein ganz normales Mitglied der Grünen. "Deswegen muss man das auch so werten: Da hat ein Mitglied was gesagt", sagte Kretschmann am Dienstag in Stuttgart.

Das Recht habe Palmer. "Das muss man, glaube ich, aushalten in einer Partei, die inzwischen so groß ist wie wir – dass da Leute was äußern, das man für grundlegend falsch hält." In der Sache wies Kretschmann Palmers Aussagen aber zurück. Der Oberbürgermeister habe sich damit erheblich verrannt. "Das geht überhaupt nicht."

Geduld von Grünen-Chef Habeck "wirklich erschöpft"

Die Geduld von Grünen-Chef Habeck mit Palmer sei "wirklich erschöpft", wie er zuletzt sagte. Habeck selbst wollte sich auf Anfrage unserer Redaktion nicht weiter zu Palmer äußern. Die Grünen-Pressestelle verwies auf die Stellungnahme des Bundesvorstandes vom Montag. "In unschöner Regelmäßigkeit stellt sich Boris Palmer bewusst provokativ gegen die Werte der Grünen", heißt es darin. Das "Geschäftsmodell Palmer" schade der Partei.

Die Corona-Aussage war nun der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Palmer hatte sich nachts auf der Straße wegen vermeintlicher Ruhestörung mit einem Studenten angelegt, Parteikollegen als "Meinungstyrannen" bezeichnet und sich an nicht-weißen Werbeträgern für die Deutsche Bahn gestört.

Schon vor ziemlich genau einem Jahr war über Palmers Rauswurf aus der Partei diskutiert worden. Trotz der erneut lauten Stimmen ist ein Parteiausschlussverfahren aber unwahrscheinlich. Als warnendes Beispiel gilt den Grünen der Fall Thilo Sarrazin. Der Versuch, den ehemaligen Berliner Finanzsenator aus der Partei zu werfen, beschäftigt die SPD seit mehr als zehn Jahren.

Parteibasis Tübingen wendet sich von Palmer ab

Einen Schlussstrich hat indessen die Parteibasis in Tübingen gezogen. Sowohl der Grünen-Stadt- als auch Kreisverband hat sich am Dienstag deutlich von Palmer distanziert. Man werde ihn "bei Kandidaturen um politische Ämter zukünftig nicht mehr unterstützen".

Als Vertreter der Grünen wird Palmer also vermutlich nicht bei der Oberbürgermeisterwahl in zwei Jahren antreten können. Palmer selbst sagt: "Ob ich mich für eine dritte Amtszeit bewerbe, habe ich noch gar nicht entschieden."

Mit Material der dpa.
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