• Zum Jahreswechsel 2015/2016 kam es vor dem Kölner Hauptbahnhof zu massiven sexuellen Übergriffen und anderen Straftaten.
  • Das Ereignis stellte für Polizei, Medien, Politik und auch für die Geflüchteten in Deutschland einen Einschnitt dar.
  • Von 355 bekannten Beschuldigten wurden bisher 33 rechtskräftig verurteilt.

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Die Nacht vom 31. Dezember 2015 auf den 1. Januar 2016 markierte nicht nur den Beginn eines neuen Jahres. Sie veränderte auch die deutsche Gesellschaft. Wenige Monate zuvor hatte die Flüchtlingsbewegung in Richtung Europa ihren Höhepunkt erreicht.

In der ganzen Welt rieb man sich die Augen angesichts der Bilder von der deutschen Willkommenskultur, von unzähligen Menschen, die Neuankömmlinge hilfsbereit aufnahmen. Dann aber kam die Silvesternacht.

In mehreren deutschen Städten verübten junge Männer zahlreiche Straftaten, vor allem in Köln. Welchen Einfluss hatte diese Nacht auf Gesellschaft, Politik, Polizei und Medien? Eine Bilanz fünf Jahre danach.

Rückblick: Was in Köln geschah

In der Silvesternacht 2015/2016 mischten sich zeitweile bis zu 1.000 Personen unter die Feiernden vor dem Kölner Hauptbahnhof und auf den Stufen zum Dom. Es handelte sich um Gruppen von Männern im Alter zwischen etwa 15 und 35 Jahren, von denen viele aus dem arabischen oder nordafrikanischen Raum stammten.

Sie waren alkoholisiert und traten zum Teil stark enthemmt und aggressiv auf, zündeten Feuerwerkskörper und verübten Diebstähle. Frauen wurden sexuell bedrängt, belästigt und genötigt.

Die Staatsanwaltschaft Köln bearbeitete nach der Silvesternacht insgesamt 1.210 Strafanzeigen. Davon bezogen sich 511 auf sexuelle Übergriffe, also Beleidigungen, Nötigungen sowie 28 versuchte oder verübte Vergewaltigungen.

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Die Polizei: Verstärkte Präsenz nach massiver Kritik

Am Neujahrsmorgen hatte das Kölner Präsidium eine Pressemitteilung mit der Überschrift "Ausgelassene Stimmung – Feiern weitgehend friedlich" herausgegeben. Am 8. Januar musste es klarstellen, dass diese Meldung inhaltlich nicht korrekt war. Am selben Tag wurde der Polizeipräsident vom damaligen NRW-Innenminister Ralf Jäger in den Ruhestand versetzt.

Für den Einsatz in der Silvesternacht waren gerade einmal 142 Beamtinnen und Beamte eingeplant, hinzu kamen rund 70 Kräfte der Bundespolizei. Innenminister Jäger sagte später: "Insgesamt waren die Beamten – egal, ob sie der Bundespolizei oder der Kölner Polizei angehören – in dieser Situation überfordert."

Für die Polizei und das öffentliche Leben in Köln hatten die Ereignisse weitreichende Folgen. "Wir haben die polizeiliche Präsenz 2016 deutlich verstärkt. Wichtig war uns, dass die Beamtinnen und Beamten in Uniform ansprechbar sind und dass sie in gefährlichen Situationen frühzeitig eingreifen", erklärt der Kölner Polizeisprecher Thomas Held unserer Redaktion.

Das Präsidium ließ wissenschaftliche Studien erstellen, holte sich bei Einsätzen Unterstützung von Streetworkern, Kultur- und Sprachmittlern. Auch die Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen wurde ausgeweitet.

Zum darauffolgenden Jahreswechsel 2016/17 waren in der Spitze 1.500 Polizeikräfte im Einsatz. Zudem lud die Polizei Medienvertreter dieses Mal zu den Vorbereitungen auf den Silvestereinsatz ein. "Uns war klar: Wir müssen Polizeiarbeit und ihre Hintergründe den Menschen viel verständlicher erklären", sagt Held.

In den vergangenen fünf Jahren habe sich unendlich viel getan, sagt der Sprecher. Er betont aber mehrmals: Nicht alles sei allein auf die Silvesternacht 2015/16 zurückzuführen. "Die Sicherheitslage hat sich auch danach im Jahr 2016 durch terroristische Anschläge in Europa komplett verändert."

Die Politik: Gesetzesverschärfungen und Asylpaket II

Der Jahreswechsel war auch aus politischer Sicht der Auftakt eines unruhigen Jahres, in dem Terroranschläge und weitere schwere Straftaten für Schlagzeilen sorgten. "Köln hat die öffentliche Diskussion kippen lassen", sagt Beate Küpper im Gespräch mit unserer Redaktion.

Die Professorin für Soziale Arbeit an der Hochschule Niederrhein forscht unter anderem zu Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Deutschland. "Im Herbst 2015 lag der Fokus noch auf Familien mit Kindern, auf Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen. Es gab eine Gewisse Freude am Helfen, die Deutschen haben sich dafür auch gefeiert", erklärt Küpper.

"Nach Köln ging es in Debatten um Flucht und Integration nur noch um alleinreisende fremde junge Männer. Dabei waren die Gruppen der Geflüchteten zu jeder Zeit sehr gemischt."

Politisch profitierte vor allem die AfD von dieser Diskussion. Die Partei habe es geschafft, ihre Lesart des Themas in die politische Debatte zu drücken, sagt Küpper: "Flucht, Integration, der Islam – das alles wurde als etwas Gefährliches betrachtet."

Die veränderte Debatte schlug sich auch in Gesetzesänderungen nieder. Im März 2016 trat das Asylpaket II in Kraft, das Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern deutlich beschleunigen sollte.

Der Begriff "Nafri" (Polizeijargon für Nordafrikaner) und die vom damaligen CSU-Chef Horst Seehofer geforderte Obergrenze für Einwanderung fanden Eingang in den Wortschatz.

Die Ereignisse von Köln hatten auch Einfluss auf das Sexualstrafrecht in Deutschland: Sexuelle Belästigung wurde als Straftatbestand ins Strafgesetzbuch aufgenommen.

Geflüchtete und Ehrenamtliche: Das Ende der Willkommenskultur?

Wenig war nach dieser Silvesternacht, wie es vorher war: Das gilt auch für Geflüchtete und Menschen, die sich für sie einsetzen. "In der Stadt und in ganz Deutschland hat eine rassistische Hetze begonnen, die es vorher so nicht gegeben hat", sagt Claus-Ulrich Prölß, Geschäftsführer des Kölner Flüchtlingsrats, im Gespräch mit unserer Redaktion. Das gelte vor allem für die sozialen Netzwerke, doch auch auf der Straße patrouillierten rechte Bürgerwehren.

Geflüchtete seien damals unter den Generalverdacht gestellt worden, potenzielle Straftäter zu sein, sagt Prölß. "Die Polizei hat gezielt Menschen auf der Straße angehalten und kontrolliert, die nicht deutsch aussahen."

Viele Geflüchtete seien stark verunsichert gewesen, sagt Prölß. "Die Silvesternacht hat außerdem dazu geführt, dass das bürgerschaftliche Engagement eingebrochen ist und sich auch nicht nach kurzer Zeit wieder erholt hat." In Flüchtlingsinitiativen seien viele Menschen weggeblieben – zumindest solche, die zuvor nicht voll hinter der Sache gestanden hatten.

Diesen Aspekt nennt auch Professorin Beate Küpper: "Problematisch ist, dass sich auch viele Menschen, die sich für Geflüchtete einsetzten, plötzlich verteidigen mussten. Ihr Engagement wurde im öffentlichen Diskurs nicht mehr gewürdigt, stattdessen mussten sie sich fragen lassen: 'Warum helft ihr denen eigentlich?'"

Ein Lichtblick war für Claus-Ulrich Prölß die Kölner Botschaft: Prominente forderten darin eine Aufklärung der Straftaten – aber auch ein Ende von Polarisierung und Diskriminierung. Auch die Stadtspitze und der Stadtrat hätten sehr sachlich, realistisch und differenziert über das Thema diskutiert, sagt Prölß. "Die Stadt ist unserer Meinung nach insgesamt gut mit der Situation umgegangen."

"Interessant ist, dass das Land seit 2015 trotz aller Hindernisse eine große Zahl von Menschen integriert hat", meint Beate Küpper. "Es sind ganz viele Leute in halbwegs vernünftige Arbeit gekommen. Vieles hat gut funktioniert, weil viele Leute mitgezogen haben. Das ist eine Stärke, die in der öffentlichen Diskussion nach Köln leider untergegangen ist."

Die Medien: Erst zögerlich, dann ausgiebig berichtet

Kölner Lokalzeitungen meldeten schon am Neujahrstag, dass es in der Nacht zu verschiedenen Vorfällen gekommen war. Doch erst am 4. Januar griffen auch überregionale Medien das Thema auf. Eine Ausnahme machte das ZDF, das in der "Heute"-Ausgabe vom 4. Januar nicht darüber berichtete - ein Versäumnis, für das sich der stellvertretende Chefredakteur Elmar Theveßen später entschuldigte.

Redaktionen sahen sich teils massiven Vorwürfen ausgesetzt: Hatten sie zu zögerlich über das Thema berichtet?

"Medien haben damals unterschiedlich reagiert. Der 'Kölner Stadt-Anzeiger' berichtete bereits am 1. Januar mittags", sagt Thomas Hestermann, Professor für Journalistik an der Hochschule Macromedia, im Gespräch mit unserer Redaktion. "Andere, gerade überregionale Medien haben die Dimension verkannt. Aber man kann nicht sagen, dass Medien planvoll etwas verschwiegen hätten."

Der Vorwurf, zu spät reagiert zu haben, hinterließ aber in vielen Redaktionen Eindruck, denn schnell wurde das Thema ausgiebig und in zum Teil drastischen Begriffen aufgegriffen. Die "Bild"-Zeitung schrieb von einem "Sex-Mob", die Wochenzeitung "Die Zeit" ging der Frage nach, was "den arabischen Mann" ausmache.

"Es ist verblüffend, wie sich die Entwicklung verselbstständigt hat", sagt Hestermann. "Die Unterstellung, die Medien hätten etwas verschwiegen, ist bei einigen Journalisten auf fruchtbaren Boden gefallen und hat zu einer völligen Kehrtwende geführt."

Hestermann hat in einer Studie für den Mediendienst Integration untersucht, wie häufig in journalistischen Beiträgen die Nationalität eines Verdächtigen oder Straftäters genannt wird. 2014 war das nur in 4,8 Prozent der untersuchten Fernsehbeiträge der Fall, 2017 dagegen schon in 17,9 Prozent. 2019 verwies fast jeder dritte Fernsehbeitrag (31,4 Prozent) auf die Herkunft eines Tatverdächtigen – bei Zeitungsartikeln waren es sogar 44,1 Prozent.

Wenn die Herkunft von Tatverdächtigen genannt werde, dann sei das in den allermeisten Fällen bei ausländischen Verdächtigen der Fall: Ihr Anteil betrug 2019 unter den untersuchten TV-Beiträgen mit Herkunftsnennung 89,1 Prozent, bei den Zeitungsbeiträgen 93,5 Prozent. "Das kann vielfach zu Fehlannahmen führen", sagt Hestermann. Denn der Polizeilichen Kriminalstatistik für 2019 zufolge wurden 30,9 Prozent der Straftaten von ausländischen Tatverdächtigen verübt, 69,1 Prozent dagegen von Deutschen.

Die Justiz: Wenig Beweise, wenig Verurteilungen

Am Ende noch ein Blick auf Täter und Strafen. Die juristische Aufarbeitung steht in einem gewissen Gegensatz zu den weitreichenden gesellschaftlichen Folgen der Silvesternacht.

Die Staatsanwaltschaft Köln teilt auf Anfrage unserer Redaktion mit: Insgesamt 1.304 Personen gaben bisher an, in dieser Nacht Opfer einer Straftat geworden zu sein, 661 davon machten sexuelle Übergriffe geltend.

355 Beschuldigte hat die Staatsanwaltschaft Köln namentlich ermittelt und gegen sie 292 Verfahren eingeleitet. Ihnen Straftaten nachzuweisen, erwies sich jedoch als schwierig - unter anderem, weil in der Nacht so wenig Polizeikräfte vor Ort waren, weil es kaum Fotos oder Videoaufnahmen gab. 145 Verfahren wurden eingestellt. Für 28 davon gilt das nur vorläufig, weil der Aufenthaltsort der Beschuldigten unbekannt ist.

Gegen 46 Beschuldigte hat die Staatsanwaltschaft inzwischen Anklage erhoben, für 36 davon wurde bisher ein Urteil gesprochen: 33 wurden rechtskräftig verurteilt, drei freigesprochen. Die Verurteilungen erfolgten übrigens in den allermeisten Fällen wegen Diebstahls. Nur fünf der 46 Angeklagten mussten sich wegen sexueller Nötigung verantworten. Und von ihnen wurden nur zwei deswegen verurteilt.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Prof. Dr. Beate Küpper, Hochschule Niederrhein
  • Gespräch mit Claus-Ulrich Prölß, Kölner Flüchtlingsrat e.V.
  • Gespräch mit Prof. Dr. Thomas Hestermann, Hochschule Macromedia
  • Anfrage an die Staatsanwaltschaft Köln, Pressestelle
  • Polizeipräsidium Köln, Pressestelle
  • Bundeszentrale für politische Bildung – Aus Politik und Zeitgeschichte: "Nach" Köln ist wie 'vor' Köln. Die Silvesternacht und ihre Folgen
  • Landtag Nordrhein-Westfalen 16. Wahlperiode: Schlussbericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses IV
  • Presseportal.de: POL-K: 160101-1-K/LEV Ausgelassene Stimmung - Feiern weitgehend friedlich
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