- Als Kanzlerin Angela Merkel Anfang März zusammen mit den Ministerpräsidenten der Länder Öffnungsschritte beschloss, einigten sich alle auch auf ein Verfahren, wenn die Zahl der Infektionen wieder steigt.
- Diese sogenannte Corona-Notbremse soll demnach bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in Kraft treten.
- Doch etliche Regionen und Städte setzen sich über diese Regel hinweg – wie kann das sein?
Deutschland befindet sich weiter im Lockdown. Doch der wird seit Anfang des Monats immer mehr durchlöchert. So lange die Sieben-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner regional maximal den Wert von 100 erreicht, dürfen Geschäfte, Museen und Zoos wieder geöffnet werden.
Steigt der Wert in einer Region oder einem Bundesland weiter und bleibt hoch, dann – so hatten sich Bund und Länder zumindest am 3. März nach langen Diskussionen geeinigt – soll eine "Notbremse" greifen.
Die Realität sieht allerdings anders aus, Beispiel Nordrhein-Westfalen: Dort überschreiten aktuell 14 der 53 Kreise und kreisfreien Städte die Marke von 100, darunter die Millionenstadt Köln sowie die Großstädte Wuppertal und Duisburg. Die Corona-Notbremse hat bislang keine Kommune gezogen.
Gleiches Bild in Sachsen-Anhalt: "Bis zum 23. März wird nichts zu- oder aufgemacht", sagte ein Regierungssprecher. Die landesweite Inzidenz liegt dort bereits seit vergangenem Freitag über 100. Zeitgleich wird in Thüringen mit dem bundesweiten Inzidenz-Höchstwert von 180,2 laut über Lockerungen nachgedacht. Und Brandenburg hat sogar die Notbremse auf kommunaler Ebene auf 200 erhöht.
Aber wie kann das sein? Warum halten sich die Behörden nicht an die von Bundesregierung und allen 16 Ministerpräsidenten beschlossenen Regeln?
Jedes Bundesland und jeder Kreis macht sich die Corona-Regeln selbst
Der Hauptgrund: Die Regelung ist schwammig formuliert. Demnach soll die "Notbremse" greifen, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz an drei aufeinander folgenden Tagen bei über 100 liegt. In einer "Region" – doch deren Grenzen bleiben offen. An anderer Stelle ist von einer "stabilen oder sinkenden" Inzidenz die Rede. Wie groß eine Veränderung der Zahlen wirklich exakt sein muss ist völlig unklar und entscheidet jedes Bundesland selbst.
So zieht beispielsweise Nordrhein-Westfalen die Notbremse erst, wenn die Inzidenzzahl landesweit die Grenze überschreitet. Noch liegt das Bundesland mit einer Inzidenz von 92,1 knapp unter dem kritischen Wert. Die Notbremse sei "kein Automatismus", hatte Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) am Dienstag erklärt. Er forderte die Kreise auf, den von Bund und Ländern vereinbarten Notfallmechanismus "pragmatisch umzusetzen".
Das tun diese auch – mit lokal geltenden Allgemeinverfügungen, die die jeweiligen Verordnungen der Bundesländer mitunter sehr frei auslegen. Die Beschlüsse von Bund und Länder leiern so auf jeder Ebene bis hinunter zu den Gemeinden immer weiter aus.
Dazu kommt: Als der zugrunde liegende Mechanismus Anfang des Monats beschlossen wurde, lagen zu dem Zeitpunkt bundesweit nur annähernd 10 Prozent der Landkreise und kreisfreien Städte über der Schwelle von maximal 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und Woche. Für gut 150 der bundesweit insgesamt 464 Kreise und kreisfreie Städte gab das Robert-Koch-Institut damals sogar eine Inzidenz von unter 50 an.
Die Situation hat sich in den vergangenen zwei Wochen allerdings merklich verschärft – geöffnet wird aber weiter. Mehr als ein Viertel (27 Prozent) der Kreise und kreisfreie Städte haben jetzt die Schwelle von 100 durchbrochen, unter 50 liegen nur noch 78.
Der Landkreis Calw und die "bereinigte Inzidenz"
Um dennoch dem örtlichen Einzelhandel die Möglichkeit zum Öffnen zu geben, gehen auch einige Lokalpolitiker ungewöhnliche Wege. Der Landrat des baden-württembergischen Kreises Calw berief sich etwa auf eine "bereinigte Inzidenz", weil "das Infektionsgeschehen im Landkreis in maßgeblichen Teilen eingrenzbar und somit nicht diffus" gewesen sei. Auch das eine Lücke, diesmal in der aktuellen Corona-Verordnung Baden-Württembergs. Durch das Vorgehen halbierte sich der vom Landkreis ausgegebene Inzidenz-Wert nahezu und es wurde möglich, Geschäfte zu öffnen.
Lange bestehen blieben die Lockerungen indessen nicht. Das baden-württembergische Sozialministerium beendete das Vorgehen nach weniger als einer Woche. Zugleich stiegen selbst die "bereinigten" Werte über die 50er-Marke.
Der Calwer Landrat Helmut Riegger war aber weiterhin der Auffassung, "dass nicht die reinen Inzidenzwerte ausschlaggebend für Lockerungen sein dürfen". Der kleinteilige Einzelhandel im Landkreis sei nicht die Ursache für steigende Infektionszahlen, betonte der CDU-Politiker am Montag.
Corona-"Notbremse" – aber nur mit halber Kraft
Von der Landesregierung zurückgepfiffen wurde auch Pirmasens in Rheinland-Pfalz. Die Stadt hatte die Corona-"Notbremse" nur mit halber Kraft gezogen und am Sonntag eine Allgemeinverfügung erlassen, die von der Corona-Strategie des Landes abwich.
Obwohl die Sieben-Tage-Inzidenz länger als drei Tage deutlich über 100 lag, durften die Geschäfte weiter offen bleiben. Die Landesregierung reagierte erst am Mittwoch mit einem Erlass. Oberbürgermeister Zwick (CDU) musste die Einzelhandelgeschäfte weitgehend schließen – "zähneknirschend", wie er dem SWR sagte.
Thüringens Wirtschaftsminister will Alternativen zur Inzidenz
Und dann gibt es da noch Bundesländer, die gleich komplett einen anderen Weg gehen – oder diesen gerne gehen würden.
"Ich plädiere – vorausgesetzt es gibt die Testung in Kitas und Schulen – für regionale Öffnungsmöglichkeiten. Und zwar auch dann, wenn die landesweite Inzidenz über 100 liegt, aber dieser Wert in den Regionen deutlich darunter ist", sagte Thüringens Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) laut "Thüringer Allgemeine". "Die Inzidenz allein ist ein zu scharfes Schwert."
Brandenburg hat die landesweite Bremse gleich gar nicht erst explizit in die Verordnung geschrieben. Das Land hatte dafür rechtliche Gründe angeführt. Dafür regelt nun die Verordnung, dass Kreise und kreisfreie Städte bei einem Wert über 100 zusätzliche Schutzmaßnahmen ergreifen sollen – nicht aber müssen. Erst ab 200 müssen sie dann die jüngsten Lockerungen zurücknehmen.
So verzichtet bisher etwa der Landkreis Elbe-Elster auf Einschränkungen. Dort lag die Inzidenz am Mittwoch bei 198,4. "Wenn die geltenden Regelungen beachtet werden, bedarf es keiner neuen Einschränkungen", lies Landrat Christian Heinrich-Jaschinski (CDU) am vergangenen Freitag mitteilen. Am Donnerstag kletterte der Wert dann aber über die 200er-Marke. Wenn das auf drei aufeinanderfolgenden Tagen passiere, müsse man das "leider Gottes melden müssen", sagte Heinrich-Jaschinski dem RBB. Die Lockerungen würden dann wieder zurückgenommen.
Brandenburg hat zwei Regelungen gleichzeitig – und Hessen gar keine
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD warb derweil um regionale Differenzierung: "Wenn Sie zwei Ausbrüche beispielsweise in Altenheimen haben mit großen Zahlen, dann können Sie nicht 180 Kilometer (weiter) eine ganze Stadt zuschließen mit der Begründung, da ist der Wert überschritten worden."
Woidke betonte am Mittwoch im ARD-"Morgenmagazin": "Brandenburg geht keinen Sonderweg". Stattdessen würden in dem Bundesland zwei Regelungen gleichzeitig gelten – eine landesweite und eine kommunale. Gar keine Bestimmung gibt es dagegen in Hessen: Der Aspekt der "Notbremse" sei noch nicht abschließend in einer Verordnung geregelt, hieß es.
Verwendete Quellen:
- Meldungen der Nachrichtenagenturen dpa und AFP
- Pressemitteilungen der Landkreise Calw und Elbe-Elster
- SWR: "Ab heute Ladenschließungen und Ausgangssperre in Pirmasens"
- Thüringer Allgemeine: "Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee will mehr regional lockern"
- RBB: "Landrat von Elbe-Elster rechnet mit Verschärfung der Maßnahmen"
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