Kulturkampf auf den Autobahnen: Die Debatte um ein generelles Tempolimit reißt trotz Absage der Bundesregierung nicht ab. Mehr Sicherheit, weniger Tote, schnellerer Verkehrsfluss – so die Versprechen der Befürworter. Wie viel ist dran an den gängigsten Thesen?
Kaum hat man das Wort "Tempolimit" ausgesprochen, da sind die Deutschen schon auf der Palme. Es scheint: Was den Amerikanern ihre Waffen sind, den Spaniern ihre Siesta oder den Briten ihr Pfund – das ist für die Deutschen ihr Auto und die Selbstbestimmung über eben jenes.
Im Stimmengewirr wird empört durcheinandergerufen: "Die anderen Länder machen das auch so!", "Ein Tempolimit schützt die Umwelt!" oder "Das ist ein Eingriff in die Freiheit!" Wie viel ist dran an den gängigsten Argumenten von Klimaschutz bis Verkehrssicherheit? Wir machen den Faktencheck.
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These 1: Erhöhte Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmer
Weniger Tote, weniger Verletzte, weniger Unfälle – So das Credo der Befürworter eines Tempolimits. Wer Bilder von Autounfällen gesehen hat, der weiß, wie schwer dieses Argument wiegt. Zuerst eine positive Nachricht: Während die Fahrleistung in Deutschland seit Jahrzehnten kontinuierlich steigt, sinken Unfälle mit Personenschaden immer weiter.
Gab es beispielsweise 1980 insgesamt fast 380.000 Unfälle mit Personenschaden auf Deutschlands Straßen, waren es 2017 noch knapp 303.000. In der gleichen Zeit verdoppelte sich die Fahrleistung beinahe: 1980 betrug sie noch knapp 368 Milliarden Kilometer, 2017 schon 755 Milliarden Kilometer.
Dennoch: Jeder verletzte oder getötete Mensch ist einer zu viel, so sieht es auch die Bundesregierung und proklamiert eine "Null-Verkehrstote-Strategie". 3.177 Tote und 390.000 Verletzte sind die Bilanz im Jahr 2017. Laut Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) ereigneten sich von den knapp über 300.000 Unfällen 21.000 auf Bundesautobahnen.
12 Prozent aller Verkehrstoten sterben auf Autobahnen
Wie gefährlich sind Autobahnen? Mit knapp 13.000 Kilometern machen Bundesautobahnen etwa sechs Prozent vom Straßennetz des überörtlichen Verkehrs aus, im Jahr 2017 wurden auf ihnen aber fast ein Drittel aller Kraftfahrzeugkilometer gefahren. Knapp 12 Prozent aller Verkehrstoten kamen auf Autobahnen ums Leben – dementgegen stehen 60 Prozent aller Verkehrstoten auf Landstraßen, die gleichzeitig nur 40 Prozent der Kfz-Fahrleistungen verzeichnen.
Der ADAC urteilt: "Autobahnen sind bei Weitem die sichersten Straßen in Deutschland" und rechnet vor: "Die Zahl der auf Autobahnen Getöteten pro 1 Milliarde Fahrzeugkilometer liegt in Deutschland bei aktuell 1,6."
Einen Zusammenhang zwischen generellem Tempolimit und dem Sicherheitsniveau auf Autobahnen will der Autoclub nicht erkennen, im internationalen Vergleich schnitten Länder mit genereller Geschwindigkeitsbeschränkung, wie Österreich, Belgien oder die USA, nicht besser ab als Deutschland.
So verzeichnet man hierzulande laut WHO-Bericht aus dem Jahr 2013 im Schnitt 4,7 Verkehrstote je 100.000 Einwohner, in den USA sind es 11,4, in Belgien 8,1 und in Österreich 6,6. Aber: Auf Autobahnabschnitten ohne Tempolimit kamen 2016 fast 50 Prozent mehr Menschen pro Autobahnkilometer ums Leben als auf Strecken mit Tempolimit.
Mehrzahl der tödlichen Unfälle auf Strecken ohne Tempolimit
Sichere Autobahnen bedeuten nicht, dass es nicht noch sicherer geht. So führt der Verkehrsclub Deutschland (VCD) eine britische Studie des "Transport Research Laboratory" an, in der es heißt: Eine Verringerung der Durchschnittsgeschwindigkeit um drei Stundenkilometer könnte mehr als 5.000 Menschen europaweit das Leben retten. Denn: "Rund 42 Prozent aller schweren Unfälle auf Autobahnen sind sogenannte Geschwindigkeitsunfälle, 70 Prozent aller tödlichen Unfälle ereignen sich auf Autobahnabschnitten, die keine Geschwindigkeitsbegrenzung haben", so der VCD.
Der VCD argumentiert: "Es bleibt ein Gesetz der Physik, dass niedrigere Geschwindigkeiten Unfälle verhindern und niedrigere Aufprallgeschwindigkeiten die Folgen eines Unfalls mindern." Laut Zahlen des BASt aus dem Jahr 2003 ließe sich die "sicherheitserhöhende Wirkung eines Tempolimits auf 130 km/h" mit einem Rückgang der Anzahl der Getöteten um 20 Prozent quantifizieren.
These 2: Reduktion des CO2-Ausstoßes hilft der Umwelt
In Bezug auf die Reduktion des CO2-Ausstoßes streiten sich Gegner und Befürworter eines generellen Tempolimits vor allem um ein Adverb. Denn, dass weniger CO2-Ausstoß der Umwelt hilft, ist in der Debatte gemeinsamer Boden. Aber: Sind es "nur" neun Prozent Reduktion oder "sogar" neun Prozent?
Die Datenlage über die Auswirkungen eines generellen Tempolimits fällt bescheiden aus, sodass Gegner und Befürworter dieselben Zahlensätze etikettieren: Die aktuellsten Daten sind bereits etwa 20 Jahre alt und wurden vom Umweltbundesamt erhoben. Damals berechnete man die Emissionsminderungen bei Tempolimits von 100 und 120 Stundenkilometern.
Ist die Einsparung das Limit wert?
Das Umweltbundesamt kam zu dem Ergebnis: Bei Tempo 120 reduzieren sich die die CO2-Emissionen um neun Prozent – bezogen auf den Pkw-Verkehr auf Autobahnen. Weil dort etwa ein Drittel der Pkw-Fahrleistung erbracht wird, würde die CO2-Einsparung auf den gesamten Pkw-Verkehr bezogen drei Prozent betragen. Bei einem Tempolimit von 130 Stundenkilometern sprechen die Abgeordneten aktuell von sechs Prozent Treibhausgas-Reduktion.
Wie viel ist das? Wer langsamer fährt, verbraucht weniger Kraftstoff. Auf Grundlage von Zahlen des Bundesverkehrsministeriums zum CO2-Ausstoß des Straßenverkehrs, läge die Einsparung an Kraftstoff durch ein Tempolimit auf 120 Stundenkilometer etwa bei 1,37 Milliarden Litern, beziehungsweise bei 3,4 Millionen Tonnen Kohlenstoffdioxid. Bei einem Limit von 130 Stundenkilometern beträgt das Sparpotenzial rund 2,5 Millionen Tonnen CO2.
Ein Bruchteil des Gesamtausstoßes
Zum Vergleich: Der CO2-Gesamtausstoß in Deutschland liegt bei etwa 900 Millionen Tonnen jährlich, die emissionsstärksten Sektoren sind die Energiewirtschaft, der Verkehrssektor sowie Haushalte und das verarbeitende Gewerbe. Der Autoverkehr allein war 2017 für die Emission von 115 Millionen Tonnen Kohlendioxid verantwortlich.
"Der Verkehrsbereich stößt insgesamt immer mehr CO2 aus“, sagte Grünen-Fraktionschefin Kathrin Göring-Eckardt gegenüber der Funke Mediengruppe. Ein Tempolimit sei daher eine von vielen Maßnahmen auf dem Weg zu sicherem und sauberem Verkehr.
Zur weiteren Einordnung: Der gesamte Schienengüterverkehr in Deutschland verursacht rund 2,4 Millionen Tonnen CO2. Alle in Deutschland betriebenen Busse kommen auf 3,3 Millionen Tonnen. Laut dem Rechner von "Atmosfair" sorgt ein Flug von Düsseldorf nach New York für knapp 2,2 Tonnen CO2-Ausstoß. Ein Jahr Autofahren mit einem Mittelklassewagen bringen es auf etwa 2 Tonnen.
Kleiner Schritt in die richtige Richtung
Bleibt festzuhalten: Der Diskussionspunkt lautet "Rechtfertigt das Einsparpotenzial die politische Maßnahme – Ist sie ein Tropfen auf den heißen Stein oder ein kleiner Schritt in die richtige Richtung?“ Während die Bundesregierung von "intelligenteren" Maßnahmen spricht und der ADAC die Einsparungen von national weniger als 0,5 Prozent als "nicht maßgeblich" beurteilt, fordern Umweltschützer bereits ein Limit von 100 Stundenkilometern.
These 3: Mehr Staus durch ein Tempolimit
Jeder Autofahrer weiß, dass die im Auto zugebrachten Minuten scheinbar nicht enden wollen, wenn man im Stau steht. Umso verlockender klingt die Verheißung, ein Tempolimit könnte zu gleichmäßigerem Verkehrsfluss führen – und umso abschreckender die These: "Tempolimits führen zu mehr Stau!" Was stimmt?
Welche Auswirkungen es geben würde, ist unter Verkehrsexperten strittig. Das "Handelsblatt" hält deshalb fest, dass hohes Verkehrsaufkommen und Baustellen die wichtigsten Stauverursacher sind und gemeinsam für allein zwei Drittel aller Verkehrsstockungen verantwortlich sind.
Hohe Geschwindigkeitsunterschiede sorgen für Stau
Aber auch hohe Geschwindigkeitsunterschiede wirkten sich negativ aus. So zitiert das Handelsblatt Gerd Lottsiepen vom VDC: "Je höher die gefahrene Geschwindigkeit und je höher die Geschwindigkeitsdifferenzen sind, desto stärker treten Störungen des Verkehrsflusses auf."
Diese Unterschiede treten laut VDC vor allem auf Teilstrecken ohne Tempolimit auf und sorgen durch Bremsmanöver und Spurwechsel für "Stau aus dem Nichts". Dass ein Tempolimit für harmonischeren Verkehrsfluss sorgen würde, steht nicht fest. "Es könnte aber sinnvoll sein, um einen der Risikofaktoren für Verkehrsstockungen zu minimieren", schreibt das Handelsblatt. Der VDC ergänzt: "Viel wichtiger ist aber, dass sich mit der geringeren Zahl von Unfällen automatisch die Zahl unfallbedingter Staus verringert."
Flexible Geschwindigkeitsregelungen
Gleichzeitig hält der ADAC flexible Geschwindigkeitsregelungen je nach Verkehrssituation für sinnvoller: "Streckenbeeinflussungsanlagen ermöglichen eine flexible, situationsgerechte Geschwindigkeitsregelung in Abhängigkeit vom jeweiligen Verkehrsaufkommen und den Witterungsbedingungen."
Auch der Stauforscher Michael Schreckenberg von der Universität Duisburg-Essen sagte gegenüber der Deutschen Presseagentur (dpa): "Ein Tempolimit ist nicht zielführend. Ich halte geregelte Geschwindigkeitsbeschränkungen für gerechtfertigt, wenn der Verkehr dichter wird – durch variable Anzeigen. Das gibt es bereits auf vielen Strecken."
Die höchste Leistungsfähigkeit einer Autobahnspur liegt übrigens bei bis zu 2.600 Fahrzeugen pro Stunde. Diese wird laut VDC bei einer Geschwindigkeit von 85 km/h erreicht.
These 4: Tempolimit heißt Zeitverlust
Im internationalen Vergleich hat Deutschland nach den USA, China und Spanien mit knapp 13.000 Kilometern das viertlängste Autobahnnetz der Welt. Aber überall freie Fahrt? Von wegen! "Derzeit sind bereits rund 30 Prozent des deutschen Autobahnnetzes dauerhaft oder zeitweise geschwindigkeitsbeschränkt", schreibt der ADAC. Daten des Verkehrsministeriums aus dem Jahr 2015 zeigen: Auf 12,5 Prozent der Autobahnen gelten Tempolimits von 120 oder 130 km/h.
Auf etwa acht Prozent der Autobahnen dürfen nur 80 oder 100 km/h gefahren werden. Hinzu kommen knapp neun Prozent Strecken, auf denen es Verkehrsbeeinflussungsanlagen gibt. Auf rund 10.000 Autobahnkilometern gilt also kein Tempolimit, es dürfte also ohne Beschränkung gefahren werden – wären da nicht die Baustellen.
Hunderte Baustellen bremsen Autofahrer aus
Im Oktober vergangenen Jahres zählte der ADAC 538 Baustellen auf deutschen Autobahnen. Besonders betroffen ist NRW: Hier gibt es laut "Straßen.NRW" etwa 350 größere Autobahnbaustellen im Jahr, hinzukommen rund 18.000 Tagesbaustellen.
Wie steht es um den Zeitverlust durch ein Tempolimit? Wer konstant 150 km/h fährt, schafft eine Strecke von 50 Kilometern rechnerisch in 20 Minuten. Fährt man stattdessen 130 km/h, braucht man für dieselbe Strecke etwa drei Minuten länger, bei 120 km/h sind es fünf Minuten und bei 100 km/h zehn Minuten mehr. Dass ein Tempo konstant gefahren werden kann, ist allerdings nur eine theoretische Überlegung.
Unfallkosten vs. Zeitkosten
Eine Studie aus Brandenburg, die sich mit den Auswirkungen eines allgemeinen Tempolimits auf Autobahnen befasst, fand heraus: Bei einer Begrenzung der Geschwindigkeit für Pkw auf 130 km/h für bisher unbegrenzte Streckenabschnitte wäre die Verringerung der Unfallkosten (22,5 Mio Euro) höher als die Erhöhung der Zeitkosten (17,2 Mio Euro), die bei niedrigeren Geschwindigkeiten durch längere Fahrzeiten entstehen.
These 5: Ein Tempolimit schränkt die Freiheit ein
Gemessen am gesamten Straßennetz gibt es nur auf einem Prozent der Straßen in Deutschland kein Tempolimit, aber genau jenes Prozent wollen sich Viele nicht nehmen lassen.
Der Publizist Ulf Poschardt sagte dazu im Deutschlandfunk Kultur: "Die Autobahn hat sich als das letzte Freiheitsfeld erwiesen, wo wir mehr Freiheit genießen, als andere auf der Welt, sonst sind wir eigentlich immer auf Freiheitstabellen nicht auf den vorderen Plätzen zu finden." Verfechter eines Tempolimits seien Spaßverderber.
Bewährtes Freiheitsprinzip
Verkehrsminister Scheuer (CSU) forderte in der FAZ das Ende "ständiger Gängelung" und sagte: "Das Prinzip der Freiheit hat sich bewährt." Auch FDP-Chef Lindner twitterte unverzüglich: "#Tempolimit ist nur ein Symbol. Mobilität soll eingeschränkt und verteuert werden. Das wäre die unkreativste Form von #Klimaschutz."
Im Gespräch mit "RP Online" erklärte Verkehrsexperte Michael Schreckenberg, warum ein Tempolimit in seinen Augen nicht sinnvoll ist – es leuchte dem Autofahrer nicht ein. Der Experte: "Es ist sinnlos, jemanden auf vollkommen freier Strecke nach Paris zu Tempo 130 zu zwingen."
Zwang, Aggression und Gängelung
Studien hätten ergeben, dass eine eintönige Fahrweise beim Fahrer zur Abschaltung des Großhirns führe und so die Zahl der Unfälle zunehme. Schreckenberg ergänzte: "Zudem weiß man nach Innenstadt-Versuchen mit generellem Tempo 30 aus Schweden, dass generelle Lösungen Aggressionen beim Autofahrer schüren."
Zwang? Aggression? Gängelung? Gegner des Tempolimits sehen die diskutierte Maßnahme als Eingriff in ihre persönliche Freiheit. Damit landet die Debatte wieder bei der großen Frage: Wiegt die Freiheit des Einzelnen mehr, oder die Sicherheit der Allgemeinheit?
Verwendete Quellen:
- Statistikportal: Länge des Autobahnnetzes
- Statistikportal: Verkehrsunfälle mit Personenschaden
- Bast.de: Verkehrs- und Unfalldaten
- Stellungnahme ADAC
- Stellungnahme VCD
- Zukunft-Mobilitaet.net: Verkehrstote im Ländervergleich
- Destatis.de: PKW Emissionen
- Atmosfair.de: Flugrechner
- wr.de: Was bringt uns ein Tempolimit?
- Welt.de: Die Bundesregierung erteilt einem Tempolimit auf der Autobahn eine klare Absage
- Spiegel.de: Regierung erteilt Tempolimit klare Absage
- Handelsblatt.de: Was Stauforscher, Klimaschützer und Unfallforscher zum Tempolimit sagen
- Rp-online.de: Sieben Fakten zum Tempolimit
- Faz.net: „Wer schneller als 120 fahren will, darf das“
- Studie zu Zeitkosten (Brandenburg)
- Baustellen NRW
- Lindner auf Twitter
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