• Groß oder klein, verbunden oder unterbrochen, scharf oder teigig: Im Laufe eines Lebens bildet sich bei jedem Menschen eine individuelle Handschrift heraus.
  • Diese kann viel über den Charakter einer Person aussagen.
  • Ein Grafologe erklärt, auf welche Merkmale er bei einer Analyse achtet und was man aus einer Handschrift ableiten kann.
Ein Interview

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Die Grafologie ist die Lehre, von der Handschrift auf den Charakter eines Menschen zu schließen. Sie wird bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts betrieben, vorwiegend in Ländern wie Frankreich, Deutschland oder Italien. Und obwohl die Menschen heutzutage immer weniger schreiben und vor allem Computer benutzen, hat die Grafologie nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt. Die ursprünglichen Regeln gelten immer noch. Was aus der Handschrift eines Menschen abgeleitet werden kann und wie man diese analysiert, hat uns der Grafologe Helmut Ploog verraten.

Herr Ploog, was kann die Unterschrift über einen Menschen aussagen?

Helmut Ploog: Eine Unterschrift ist nur teilweise aussagefähig. Sie zeigt, wie sich jemand nach außen darstellt, wie er sein möchte. Die übrige Schrift zeigt währenddessen, wie jemand wirklich ist. Da kann es sehr große Abweichungen geben und die Unterschrift kann nicht der üblichen Person entsprechen. Wir brauchen zur Untersuchung also immer eine normale Handschriftprobe, das ist die Grundeinstellung der Grafologie. Wobei: Eine Ausnahme gibt es natürlich, das ist der ehemalige US-Präsident Donald Trump. Dessen Unterschrift war schon von Haus aus eine Katastrophe. Von seiner ganzen Persönlichkeit war da schon sehr viel drin.

"Scholz ist nervlich stark unter Druck"

Bleiben wir zunächst bei Politikern. Ich habe eine Handschrift-Probe des SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz herausgesucht. Was sagt seine Schrift über ihn aus?

Diese Schrift ist schon recht interessant. Das ist eine hoch intellektuelle, intelligente Schrift. Sie ist sehr klein, reduziert, vereinfacht und auf das Wesentliche konzentriert. Es sind keine überflüssigen Streifen oder dergleichen vorhanden. Das Ganze ist aber auch ein wenig sprunghaft. Da ist zum Beispiel das Wort "einzigartiger" in der drittletzten Zeile. Dieses Wort heißt eigentlich "einziger". Zuerst kommen ein a, ein t, ein i und dann kommt nichts. Das darauffolgende sollen ein g und er sein. Dieses Wort ist ganz wirr. Darunter ist "Glaubhaftigkeit" zu lesen. Das i kann man gar nicht erkennen, das kann man nur im Zusammenhang lesen. Auch das keit hinten ist eigentlich vollkommen unlesbar. Scholz ist nervlich stark unter Druck.

Könnte das auch nur eine Momentaufnahme sein?

Das hängt natürlich auch davon ab, in welcher Situation er das Ganze geschrieben hat. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sich eine Schrift in einem Moment so stark verändern kann. Er hat wahrscheinlich sehr eilig geschrieben, aber die Schrift ist zerrissen und labil. So fahrig. Die Buchstaben sind gar nicht mehr ganz da. Es ist vollkommen extrem, wie sein Nervenkostüm da aussieht. Diese Schrift würde dem Mann keinerlei Belastbarkeit zutrauen.

"Man fragt sich: Warum diese Schlamperei?"

Und was denken Sie über die Unterschrift der Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock?

Das ist eine typische Frauenschrift. Das Runde ist das weibliche und das eckige, spitzige, winklige das männliche Element. Hier ist interessant, dass sowohl im Vor- als auch im Nachnamen jeweils der erste Wortteil breit und gut leserlich geschrieben ist. Die zweiten Hälften der Wörter, also lena und bock, hingegen sind extrem abgeflacht und vernachlässigt. Der Name wird nicht ordentlich zu Ende geführt. Man fragt sich: Warum diese Schlamperei? Das deutet daraufhin, dass ihre Aufmerksamkeit nach einiger Zeit nachlässt und sie nicht hundertprozentig exakt ist. Die Geschichte der nicht gemeldeten Einkünfte der Frau Baerbock passt genau zu dieser Vernachlässigung. Im Gegensatz dazu: Haben Sie einmal die Schrift von Bundeskanzlerin Angela Merkel gesehen? Ich meine, Frau Baerbock strebt das Kanzleramt an, da muss sie sich natürlich auch den Vergleich gefallen lassen. Da sieht man einen sehr großen Unterschied.

Frau Merkels Schrift ist sehr gleichmäßig, vor allem das u und das n.

Ja, genau. Und diese Gleichmäßigkeit ist ihre Belastbarkeit. Unsere Bundeskanzlerin hat ja sehr große Schwierigkeiten gehabt, als sie ins Amt gekommen ist. Politikerkolleginnen und -kollegen haben ihr sehr viele Steine in den Weg gelegt. Aber sie hat alles ausgesessen, mehr oder weniger alles ausgehalten - und sich am Ende durchgesetzt.

"Wenn jemand groß schreibt, will er überzeugen"

Vielen Dank für diese Einblicke. An welchen Punkten orientieren Sie sich denn bei Ihren Analysen?

Wir haben fünf Ganzheitsmerkmale und dann 20 Einzelmerkmale. Ein Ganzheitsmerkmal ist zum Beispiel das Verhältnis von Bewegung und Form, ob in einer Schrift nur die Form oder nur die Bewegung dominiert. Dann der Grad der Formfestigkeit. Also wie steif oder wie locker der Strich ist. Dann der Rhythmus, ob eine Schrift rhythmisch ist oder nicht. Ob sie schön dahinfließt oder völlig nach rechts und links wackelt. Die Schrift von Frau Merkel zum Beispiel ist absolut rhythmisch. Dann der Eigenheitsgrad, wie stark die Schrift von der Schulvorlage abweicht. Wie viel Individualität jemand in die Schrift gebracht hat. Und das fünfte Ganzheitsmerkmal ist die Einheitlichkeit. Ob sie stark gestört ist oder ob sie eher regelmäßig beziehungsweise einheitlich wirkt.

Und wie sind die Einzelmerkmale unterteilt?

Bei den Einzelmerkmalen geht es wiederum darum, ob die Schrift langsam oder schnell ist. Ob sie unterbrochen oder verbunden ist. Wenn sie unterbrochen ist, dann ist derjenige mehr auf Einzelobjekte konzentriert. Eine verbundene Schrift geht mehr in die Richtung Zusammenschau. Vor allem hängt es auch davon ab, ob die Schrift originell oder schulmäßig verbunden ist. Wenn es originell verbunden ist, dann zeigt das einen sehr intelligenten Menschen, der auch synthetisch Dinge zusammensehen kann. Außerdem macht es einen Unterschied, ob die Schrift klein oder groß ist. Bei kleiner Schrift hat derjenige eher einen geringen persönlichen Expansionstraum. Das zeigt die Liebe zum Begrenzten, Bescheidenheit und Einordnungsbereitschaft. Wenn jemand groß schreibt, will er überzeugen, sich selbst verwirklichen und darstellen. Dann wird noch analysiert, ob eine Schrift vereinfacht oder bereichert ist. Ob sie druckstark oder druckschwach ist. Ob sie regelmäßig oder unregelmäßig ist. Ob sie scharf oder teigig ist und so weiter.

Was sagt denn etwa eine scharfe Schrift über einen Menschen aus?

Diese geht in Richtung Wachheit, Sensibilität, Klarheit, Haltung, Bewusstheit und Bestimmtheit. Eine Schrift ist scharf, wenn sie mit einer spitzen Feder geschrieben wird. Der Gegensatz dazu ist eine breite Feder. Eine Schrift ist zum Beispiel teigig, wenn bei einem kleinen e die Tinte zusammenfließt. Also ein bisschen verschmiert.

Ab wann spiegelt sich die Persönlichkeit in der Schrift wider?

Die Druckschrift macht uns große Schwierigkeiten. Wenn jemand noch keine individuelle Handschrift entwickelt hat, dann kann man daraus natürlich keine Individualität entnehmen. Nachdem man die Schrift einigermaßen gemeistert und in der Schule gelernt hat, beginnt man, sie ein bisschen abzuwandeln. So, wie sie einem am besten gefällt. Und später, wenn jemand schon über 20 ist und meinetwegen studiert und beispielsweise in den Vorlesungen sehr viel schreibt, denkt er nicht mehr darüber nach, dass er schreibt. Er schreibt einfach. Dann fängt es an, dass sich die Persönlichkeit in der Schrift ausdrückt. Das passiert unbewusst.

Sie haben im Vorfeld gesagt, dass Journalisten alle eine ähnliche Handschrift haben. Woran liegt das?

Extraversion (eine nach außen gewandte Haltung; Anm.d.Red.) ist eine gewisse Voraussetzung dafür, dass jemand so einen Beruf macht. Journalisten sind also im Allgemeinen von Haus aus extrovertiert. Sie gehen auf Leute zu und müssen sich in die unterschiedlichsten Situationen einfinden. Das prägt die Handschrift. Journalisten schreiben in der Regel sehr schnell, verbunden und vereinfacht, weil sie häufig mitschreiben müssen. Natürlich hängt es auch von dem Format ab, für das jemand arbeitet. Menschen, die mit Atomwissenschaftlern und Nobelpreisträgern Interviews führen, müssen dafür qualifiziert sein und haben ein anderes Niveau als zum Beispiel jemand, der über einen großen Krautkopf schreibt, den jemand gefunden hat. Dinge wie die Formulierungsfähigkeit kann man allerdings nicht aus der Schrift erkennen.

Wofür kann man die Grafologie Ihrer meiner Meinung nach davon abgesehen noch einsetzen?

Die kann man zum Beispiel einsetzen, wenn man sich einen Ehepartner sucht. Oder wenn jemand eine Wohnung oder ein Haus vermietet. Man kann an der Schrift des Mieters sehen, ob das ein Schlawiner ist oder ob er zuverlässig wirkt. Dann gibt es zum Beispiel noch Kinder, die Probleme haben, das Schreiben zu lernen. Die brauchen dann eine Art Grafotherapeuten, der mit ihnen Schreibübungen macht, damit sie sich eine normale Schreibfähigkeit aneignen.

Und wie wird man Grafologe?

Als Verband bieten wir eine Ausbildung an. Der Erfolg hängt dabei stark von der Vorbildung und Gesamtbildung einer Person ab. Derjenige muss gut formulieren können. Jemand, der ein Studium absolviert oder das Schreiben gut gelernt hat, tut sich leichter, das in Worte zu fassen, was er in der Schrift eines anderen erkennt. Denn das, was man ermittelt hat, muss umgesetzt und richtig darstellt werden.

Zur Person: Dr. Helmut Ploog ist erster Vorsitzender des Berufsverbandes geprüfter Grafologen/Psychologen e. V. Bis 2007 war er Lehrbeauftragter für Schriftpsychologie an der Universität München. Im Jahr 2008 erschien sein Buch "Handschriften deuten". Das Interview wurde telefonisch geführt.
Redaktioneller Hinweis: Die Aussagen in diesem Interview geben die Sichtweisen des Gesprächspartners wider.
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