Nicht immer können wir uns genau erinnern. Und manchmal bilden wir uns auch etwas ein, das überhaupt nicht passiert ist. Werden unsere Erinnerungen konstant durch uns selbst oder andere manipuliert?
"Weißt du noch, als Onkel Hans damals Tante Helga statt Schmuck einen neuen Staubsauger zu Weihnachten geschenkt hat? Haben wir damals alle gelacht!" "Erinnerst du dich, als wir uns damals im Café zur Linde zum ersten Mal gesehen haben? Du hast damals ein rotes Kleid getragen!"
In jeder Familie, in jedem Freundeskreis und in jeder Beziehung gibt es sie, die Geschichten der Vergangenheit, die immer und immer wieder erzählt werden. Dass Onkel Hans Tante Helga in Wahrheit eine Küchenmaschine und keinen Staubsauger geschenkt hat und dass das erste Kennenlernen nicht im Café zur Linde, sondern in der Eisdiele gegenüber stattgefunden hat, haben wir vergessen und in der Geschichte mit einer anderen Information ersetzt.
Und diese halten wir jetzt für wahr. Wir können uns sogar bildlich ganz genau daran erinnern, obwohl es so nie stattgefunden hat. Wie ist das möglich, dass sich ein Fehler in unsere Erinnerung einschleicht?
Ist unser Gedächtnis unzuverlässig?
Unserem Gedächtnis sei nicht hundertprozentig zu trauen, sagen sowohl Diplom-Psychologe Dr. Christian Alte, Institutsleiter der Gesellschaft für Ausbildung in Psychotherapie aus Frankfurt am Main als auch Annetta Höhn, Dozentin und Trainerin für Hypnose und psychotherapeutische Konzepte aus Berlin. Und dafür gibt es mehrere Gründe, erklären beide im Gespräch.
Unser Gehirn ist in erster Linie ein Filterorgan, das aus allem, was wir tagtäglich mit unseren Sinnen erleben, nur einen Bruchteil ins Langzeitgedächtnis durchlässt. Die Vorstellung, unser Gehirn könne alles akribisch festhalten, stimmt so – auch wenn wir uns das manchmal wünschen würden – leider nicht.
Und irgendwie ist das auch entspannend, bei der täglichen Informationsflut, die so auf uns einprasselt. Nur wie entscheidet das Gehirn, an was es sich später erinnert, und warum bleiben meine Erinnerungen nicht exakt?
Erinnerungen verändern sich im Laufe der Zeit
"Erinnerungsspuren" an das, was wir erlebt haben, so Dr. Alte, verblassen nach und nach. Dadurch entsteht die Möglichkeit der veränderten Erinnerungen. Der Prozess unseres Denkens und dabei vor allem, wie wir denken, hat einen großen Einfluss auf das, an was wir uns später wie erinnern.
Dabei, so Dr. Alte, gibt es viele Einflüsse. Das beginnt bei unserem aktuellen Befinden, ob wir gestresst oder entspannt sind, und reicht bis zu unseren Bewertungsmustern und Erfahrungen, mit denen wir durchs Leben gehen. Die Kognitive Psychologie erforscht dieses Feld. Verkürzt erklärt findet unser Denken und Erinnern vernetzt statt.
Beim kleinsten Impuls werde im Gedächtnis nach etwas Ähnlichem und schon Bekanntem gesucht, erklärt Annetta Höhn. Wir erinnern uns über Verknüpfungen und schaffen ständig neue Verbindungen zwischen dem, was wir schon kennen und dem, was wir neu erleben.
Wird eine Erinnerung über einen Auslöser hervorgerufen, ist es somit möglich, dass sie mit dem gerade aktuellen Gedanken, Gefühl oder Neu-Erlebten neu verknüpft, bewertet oder gar verändert wird. Dieser Prozess erkläre, so Höhn, dass Erinnerungen auch umgeschrieben werden können. Unsere Erinnerungen sind also vergänglich, ständig im Wandel und veränderbar.
Auf unsere Erinnerungen ist kein Verlass
Daniel L. Schacter, Professor der Psychologe, leitet an der Harvard Universität in Cambridge das "Schacter Memory Lab", wo das menschliche Gedächtnis der Forschungsschwerpunkt ist. 2002 erschien sein Buch "The seven sins of memory". Darin beschreibt Schacter sieben, nennen wir sie hier nicht Sünden, sondern Unzuverlässigkeiten, unseres Gedächtnisses, die unser Erinnerungsvermögen beeinflussen. Das Vergessen über die Zeit, nennt Schacter Transienz (1).
Geistesabwesenheit (2) und Blockierung (3) sind zwei weitere Phänomene, die erklären, warum wir uns manchmal einfach nicht an etwas erinnern können. Zum Beispiel, wenn wir vergessen haben, wo wir unser Auto geparkt haben. In diesem Fall waren wir vermutlich im Augenblick des Parkens nicht aufmerksam, sondern geistesabwesend.
Die Geistesabwesenheit führt dann zur Erinnerungslücke über den Standort unseres Autos. Das plötzliche Sich-Nicht-Mehr-Erinnern-können an den Namen von "Ach, wie heißt der nochmal?" ist eine kurzfristige Blockierung, bei der das Gedächtnis den Abruf der Erinnerung hemmt.
Wenn Erinnerungen penetrant in unserem Aufmerksamkeitsfeld auftauchen, nennt Schacter das Persistenz (4). Doch welche Unzuverlässigkeiten ermöglichen, dass Erinnerungen beeinflusst werden können?
Wie Erinnerungen beeinflusst werden
Bei Falschaussagen von Zeugen greift zumeist das Phänomen der Fehlattribution (5). Hier werden, so Schacter, Erinnerungen falsch miteinander verknüpft. Der mögliche Täter kommt einem irgendwie bekannt vor, auch wenn wir die Person gar nicht genau gesehen haben.
Aufgrund einer Art interner Wahrscheinlichkeitsrechnung unseres Gedächtnisses schlussfolgern wir: Ja, der könnte es doch gewesen sein, bis zu einem überzeugten: Ja, der ist es gewesen. Unser Gedächtnis greift hierbei auf bekannte Informationen zu, und verknüpft sie miteinander in einer persönlichen Logik, die für uns selbst absolut überzeugend ist. Wir speichern somit Erinnerungen ab, die so nie stattgefunden haben.
Wir verändern ständig unsere Erinnerungen
Verzerrung (6) nennt Schacter, das unser aktuelles "Hier und Jetzt" unsere Erinnerungsleistung alleine schon damit verändert, dass wir selbst nicht mehr die gleiche Person mit den gleichen Gedanken, Gefühle und Wissen sind, die wir zum Zeitpunkt des Erlebnisses waren.
Ein schönes Beispiel hierfür ist, wie wir über die Zeit die Erlebnisse mit einem Ex-Partner erinnern. Frisch verliebt ist unsere Erinnerung an ein gemeinsames Erlebnis anders, als wenn wir mitten im Trennungsschmerz an den gleichen Moment zurückdenken. Und wenn wir der Ex-Beziehung irgendwann neutral gegenüberstehen, erinnern wir uns schon wieder ganz anders an die Situation.
Vor allem unsere Gefühle beeinflussen in diesem Beispiel, an was und wie wir uns erinnern. Die gleiche Erinnerung kann als schön oder schlecht erinnert werden, je nachdem, wann und in welchem Zustand wir auf sie zurückblicken.
Wie andere unsere Erinnerungen manipulieren können
Richtig spannend wird es bei der siebten Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses: der Suggestibilität (7). Hier geht es um die Möglichkeit der Beeinflussung von Fühlen, Denken und Handeln. Wenn mir jemand – sogar wenn ich das selbst bin - nur lange genug etwas überzeugend einredet, kann ich daran auch Erinnerungen aufbauen, obwohl es so in der Realität nie stattgefunden hat.
So können, laut Annetta Höhn, auch unliebsame Erinnerungen in angenehmere "umgeschrieben" werden. Bei der Geschichte des Weihnachtsgeschenks von Onkel Hans an Tante Helga begünstigt die Vergesslichkeit unseres Gedächtnisses, dass wir eine fiktive Erinnerung plötzlich für wahr halten.
Weil wir es selbst nicht mehr so genau erinnern, oder an dem Weihnachtsfest mit etwas ganz anderem beschäftigt waren, übernimmt unser Gedächtnis irgendwann die Details, die uns von jemand anderem suggeriert werden, und speichert diese als eigene und wahre Erinnerungen ab.
Für unser Gedächtnis ist die Geschichte logisch und wird prima mit der vorhandenen "Erinnerungsspur" verknüpft. Den eigenen Erinnerungen ist also nicht absolut zu trauen. Also: Glaube nicht alles, an das du dich erinnerst.
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