Das Coronavirus hat unsere Gesellschaft fest im Griff, die Einschränkungen unseres täglichen Lebens dauern schon mehrere Wochen an. Angstforscher Borwin Bandelow erklärt im Interview, warum die meisten Menschen mit Blick auf das Virus dennoch gelassener geworden sind und welche Chancen er für die Zeit danach sieht.
Herr Bandelow, Sie gehören zu einer sogenannten Risikogruppe. Haben Sie persönlich Angst vor dem Coronavirus?
Borwin Bandelow: Nein, nur vom Alter her. Mit 68 Jahren ist man ja angeblich Risikogruppe. Aber ansonsten habe ich keine Vorerkrankungen, wie Bluthochdruck, Diabetes oder eine Krebserkrankung. Insofern habe ich keine große Angst.
Wie beurteilen Sie die aktuelle gesellschaftliche Lage und unseren Umgang mit dem Coronavirus ganz allgemein?
Wenn eine neue Gefahr kommt, die dann auch noch unbeherrschbar erscheint, dann haben die Leute davor mehr Angst als vor bekannten Gefahren. Die große Panik vom Anfang hat sich mittlerweile wieder ein bisschen gelegt.
Ich habe da eine Vier-Wochen-Regel: Am Anfang, als die Zahl der Neuinfektionen am größten war, war die Panik vier Wochen sehr stark, aber jetzt merkt man, dass die allgemeine Furcht sich legt.
"Gewöhnen" wir uns an diese Ausnahmesituation?
Ich glaube, dass man jetzt schon sieht, dass sich die Leute nach diesen vier Wochen so langsam daran gewöhnt haben und die Einschränkungen nicht mehr so schlimm finden. Am Anfang hat man diese statistische Wahrscheinlichkeit, Opfer zu werden, stark überschätzt. Mittlerweile weiß man zwar, dass das Virus ansteckend ist und gefährlich sein kann, aber man schätzt das Risiko realistischer ein.
"Vernünftige Teil des Gehirns wird unterdrückt"
Durch das Kontaktverbot, die Ausgangsbeschränkungen und eine wohl bald kommende Tracking-App erleben wir zurzeit Eingriffe in unsere persönliche Freiheit. Wieso nehmen das die allermeisten Menschen ohne Widerstand hin?
Verletzung des Datenschutzes ist eine Angst, die in den höheren, intelligenteren Teilen des Gehirns verarbeitet wird. Dafür haben wir kein primitives Angstsystem.
Die meisten Leute denken jetzt: "Datenschutz hin, Datenschutz her, das ist mir egal. Hauptsache, ich komme gesund aus der Nummer raus." Der vernunftbegabte Teil des Gehirns wird einfach unterdrückt.
Genauso wie beim Hamstern ist es auch beim Datenschutz so, dass dieses vernünftig vorausschauende Gehirn fast völlig ausgeschaltet wird.
Gehen Politiker angemessen mit unserer Angst um oder nutzen viele sie nicht auch, um Rechte sehr weitreichend einzuschränken?
Deutschland ist natürlich Weltmeister, vielleicht nach Hongkong, was die Eindämmung der Epidemie angeht. Deswegen sind alle sehr zufrieden mit unseren Politikern.
Klar, der eine oder andere Politiker hat das für seinen Wahlkampf ausgenutzt. Aber unterm Strich hat man dennoch den Eindruck, dass die Politik besonnen vorgeht. Besser als in Großbritannien oder in den USA.
Bei uns ist man sehr demokratisch vorgegangen, jede Meinung wurde gehört und dann wurde versucht, etwas daraus zu machen.
Welche Rolle spielen die Medien bei Ängsten und wie würden Sie deren Arbeit in der aktuellen Situation einschätzen?
Die Medien sind nicht schuld an der Angst. Wenn die Medien jetzt anfangen würden, nicht über Corona zu berichten, dann würden die Menschen erst recht denken, dass ihnen etwas verschwiegen wird.
Die Leute erwarten, dass sie immer voll und bis ins kleinste Detail aufgeklärt werden. Wissen schützt vor Angst.
Aber denken Sie nicht, dass beispielsweise Boulevardmagazine teils mit den Ängsten der Menschen spielen?
Ja, man verdient im Moment schon Geld, indem man Horrornachrichten verbreitet oder manches auch optisch sehr dramatisch aufmacht, mit schrecklichen Bildern aus Italien zum Beispiel.
Aber ich habe jetzt nicht wirklich beobachtet, dass es ein Boulevardmedium völlig übertrieben hat. Das haben eher Leute übernommen, die im Internet Fake News oder Verschwörungstheorien verbreiten.
Es gibt Webseiten der sogenannten "Influenza-Influencer", die von Werbeeinnahmen leben und sich etwa als Fitness-Ratgeber tarnen. Die Menschen lesen nur die Überschrift und die Infos relativieren sich später im Laufe des Artikels. Hauptsache, die Menschen haben auf die Webseite geklickt.
"Die meisten Menschen werden gestärkt aus der Krise hervorgehen"
Im Internet kursieren viele Verschwörungstheorien. Warum finden sie in dieser Zeit eine so hohe Verbreitung?
Es gibt Menschen, die nicht besonders strukturiert denken können und gleichzeitig glauben, dass sie ihr Leben nicht in der Hand haben. Dass es von Regierungen, unheimlichen Mächten, Ausländern, Kommunisten oder anderen Religionen bestimmt wird.
Sie versuchen damit eine Erklärung zu finden, wieso sie ihr Leben nicht in den Griff bekommen. Man kann dann einfach sagen: "Die da oben sind schuld."
Wenn man den ganzen Tag auf engstem Raum zusammenlebt wie jetzt, befürchten viele die Zunahme von häuslicher Gewalt und generell mehr Stress innerhalb von Familien. Haben Sie Tipps, wie jeder Einzelne diese Ausnahmesituation bewältigen kann?
Es kann jetzt vor allem in Familien oder Paarbeziehungen leicht eskalieren, in denen es vorher schon vermehrt zu Konflikten gekommen ist. Man kann nur an die Beteiligten appellieren, auch den Konsum von Alkohol einzuschränken, der häufig hinter Konflikten steckt.
Auch sollte versucht werden, Konflikte mit Partnern oder Kindern aus dem Weg zu gehen. Trennungen oder Scheidungen sollten auf die Zeit nach Corona verschoben werden. Es ist jetzt die falsche Zeit, solche tiefgreifenden Entscheidungen zu treffen.
Welche Chancen sehen Sie vielleicht auch in dieser besonderen Situation?
Die meisten Menschen werden gestärkt aus der Krise hervorgehen, da es zu einem Wohlgefühl führt, wenn man eine Gefahr überstanden hat. Die Menschen werden bei der nächsten Notlage auch gelassener sein.
Auch, weil uns die Vergänglichkeit des Lebens vor Augen geführt wurde. Viele werden das Leben auf andere Weise wahrnehmen und nicht mehr so an Äußerlichkeiten festhalten.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.