Sie lebten unter Affen und Hunden, wurden von Wölfen aufgezogen und kommunizierten mit Vogellauten: Immer wieder tauchen Geschichten von wilden Kindern auf, die unter Tieren lebten.
Sie knurren, sie krabbeln auf allen Vieren, sie essen nur rohes Fleisch: Seit Jahrhunderten tauchen weltweit immer wieder Geschichten von Kindern auf, die fernab jeder Zivilisation und völlig isoliert von Menschen aufgewachsen sein sollen.
Sie benahmen sich eher wie Tiere als wie Menschen – was daran liegt, dass sie angeblich unter Wölfen, Affen, Leoparden oder Hunden lebten. Sie werden Wolfskinder oder wilde Kinder genannt.
Rund 100 Fälle sind im Lauf von mehr als 700 Jahren beschrieben worden, vom hessischen Wolfsjungen über das Schweinemädchen von Salzburg bis hin zum litauischen Bärenkind oder dem irischen Schafsjungen.
Die Vorstellung, dass Kinder völlig isoliert nur mit Tieren heranwuchsen, fasziniert die Menschen von jeher: Denn wie sollten die Mädchen und Jungen ohne menschliche Wärme, ohne Zuneigung und ohne Sprache überleben – und wie wuchsen sie heran?
Doch viele der überlieferten Erzählungen verwiesen Wissenschaftler schnell ins Reich der Legende. Sie gehen davon aus, dass gerade die Fälle aus früheren Jahrhunderten von Zeitgenossen extrem ausgeschmückt wurden.
Oft versuchten abergläubische Menschen, das andersartige Verhalten behinderter Kinder irgendwie zu erklären – zum Beispiel mit Hilfe der Theorie, dass sie nicht von Menschen erzogen wurden.
Auch in der Literatur gab es immer wieder Geschichten über wilde Menschen: etwa die über den edlen Affenmenschen Tarzan, oder das Märchen von Mowgli aus dem Dschungelbuch.
Die Frage ist, ob Tiere überhaupt Menschenkinder aufziehen können. Die meisten Wissenschaftler bezweifeln das. Sichere Beweise gibt es gerade für die lange zurückliegenden Behauptungen nicht.
Die Berichte stammen oft aus zweiter oder dritter Hand. Sie sind zum Teil bis heute noch umstritten.
Die Wolfskinder Kamala und Amala
Der indische Missionar J.A.L. Singh beschrieb in seinen Tagebüchern ausführlich, wie er 1920 in der Höhle einer Wölfin zwei kleine Mädchen fand. Er rettete die Kinder, obwohl das Tier sehr aggressiv reagierte.
Die Mädchen Kamala und Amala waren acht Jahre beziehungsweise acht Monate alt, sie konnten nur auf allen Vieren laufen und aßen mit dem Mund – aber nichts Gekochtes. Wahrscheinlich waren sie Schwestern, aber woher sie stammten, wurde nie geklärt.
Die "Wolfskinder von Midnapore" zeigten viele wolfsähnliche Eigenschaften: Angeblich waren sie am liebsten in der Nacht unterwegs, konnten auch im Dunkeln sehr gut sehen und besaßen einen extrem gut ausgeprägten Geruchssinn. Amala starb nach einem Jahr in einem Heim.
Der Missionar nahm Kamala zu sich, wo sie im Lauf der Jahre lernte, zu stehen und Sprache zu verstehen. Sie lief aber weiter auf allen Vieren und sprach selbst nur wenige Worte. Kamala starb 1928 mit 16 Jahren. Dass die Mädchen gelebt haben, ist bewiesen, es gab viele Augenzeugen und sie sind auch auf Fotos zu sehen.
Doch an der Geschichte des Missionars gab und gibt es Zweifel: Ob er die Mädchen wirklich bei einer Wölfin fand, wurde nie bewiesen. Vielleicht hat er auch zwei behinderte Mädchen zu Wolfskindern erklärt, um Aufmerksamkeit zu erlangen?
Der Hundejunge Ivan
Wilde Kinder werden auch jetzt noch manchmal entdeckt, auch inmitten von Städten. Erst 1998 wurde der sechsjährige Ivan Mishukov in Moskau aus einem Rudel wilder Hunde befreit. Ivan führte das Rudel an – er hatte das Vertrauen der Tiere gewonnen, indem er ihnen von seinem erbettelten Essen abgab.
Er wurde aber nicht von ihnen aufgezogen: Der kleine Junge war zwei Jahre zuvor vor dem prügelnden Freund seiner Mutter geflohen und lebte seither auf der Straße. Die Hunde nahmen ihn in ihr Rudel auf, er lernte sogar zu bellen.
Später verteidigten sie ihn mehrmals gegen Polizisten, die den Jungen befreien wollten. Ivan kam in ein Heim und von dort in eine Familie. Nach vier Jahren konnte er angeblich sprechen und zur Schule gehen.
Die Affenkinder Bello und John
Der kleine Bello war in den 1980er-Jahren in Nigeria körperlich und geistig behindert auf die Welt gekommen. Seine Nomaden-Eltern setzten ihn mit sechs Monaten im Wald aus. 1996 wurde das Kind in den Falgore-Wäldern gefunden – inmitten einer Schimpansenfamilie.
Die hatte das Kind offenbar gefunden und aufgenommen. Bello kreischte wie die Affen und ließ die Arme auf dem Boden schleifen. Der Junge wurde in die Zivilisation gebracht und lernte nicht mehr zu sprechen. 2005 starb er.
John Ssebunya wurde Mitte der 1980er-Jahre in Uganda geboren. Er war mit drei Jahren von zu Hause geflohen, nachdem sein Vater seine Mutter getötet hatte. Erst 1991 wurde John gefunden – er hatte sich einem Rudel grüner Meerkatzen angeschlossen.
Die Tiere beschützten den Jungen, als er entdeckt wurde, und bewarfen die Befreier mit Ästen. John konnte weder sprechen noch lachen, er gab Affenlaute von sich. Er schlief nur in der Hocke und aß ausschließlich rohe Früchte und Gemüse.
Doch der Junge holte alles Versäumte nach und wurde als der "Affenjunge aus Uganda" bekannt.
Ein BBC-Fernsehteam begleitete John später bei einer Expedition zu den Meerkatzen. Sie wollten testen, ob sich der Junge mit den Affen verständigen konnte: Er beherrschte die Sprache der Tiere tatsächlich.
Das galt für die Experten als Beweis, dass er wirklich mit den Affen gelebt hatte. Forscher gehen aber davon aus, dass er von den Tieren eher geduldet und nicht als gleichwertig angesehen wurde.
Der Vogeljunge Vanya
Vanya Yudin wuchs zwar bei seiner Mutter auf, doch die sprach nie ein Wort mit ihm. Der Siebenjährige wurde 2008 in einer völlig verwahrlosten Zweizimmerwohnung im russischen Wolgograd gefunden.
Mutter und Sohn hausten zusammen mit unzähligen Vögeln in Käfigen.
Vanya konnte nicht reden, er kommunizierte nur mit zwei Wellensittichen und ahmte ihr Zwitschern und Flattern nach. Der Junge wurde von der Mutter weggebracht und lebte seitdem in einer betreuten Einrichtung. Wie es ihm heute geht, ist nicht bekannt.
Der Wolfsjunge Viktor
Einer der am besten dokumentierten Fälle eines Wolfskindes ist der von Viktor, der 1800 in einem Wald in Frankreich bei Aveyron gefunden wurde. Der etwa elfjährige Junge war nackt, konnte nicht sprechen und schlief tagsüber, während er nachts immer wach war.
Mediziner und Psychiater versuchten, Viktors Schicksal zu ergründen, sie stellten zahlreiche Tests mit ihm an. Er verhielt sich in vielerlei Hinsicht wie ein Tier: So erkannte er sich selbst in einem Spiegel nicht und war unempfindlich gegenüber Gestank.
Nach vielen Untersuchungen waren sich die Ärzte einig: Viktor litt unter "Idiotie", deshalb wurde er in eine Anstalt für Taubstumme gesteckt. Sie waren sich nur nicht sicher, ob der Junge durch die Isolation bestimmte Fähigkeiten nicht erlernte, oder ob er vorher schon so war.
Später konnte Viktor einfache Arbeiten erledigen, aber sprechen konnte er nie. Woher er kam und ob er tatsächlich unter Wölfen gelebt hatte, ließ sich nie feststellen. Sein Geheimnis nahm er mit ins Grab: 1828 starb er in der Anstalt.
Der Gazellenjunge aus Syrien
1946 wurde in der syrischen Wüste angeblich eine Herde Gazellen gesichtet – zusammen mit einem zehnjährigen Jungen. Er soll wie die Tiere sehr schnell und mit riesigen Sprüngen unterwegs gewesen sein.
Doch Forscher zweifelten schnell am Wahrheitsgehalt dieser Geschichte: Wie soll sich ein Mensch mit der Geschwindigkeit von Gazellen fortbewegen können? Das Kind wurde angeblich in eine Anstalt gebracht, aber danach nie wieder gesehen.
Das Leopardenmädchen aus Indien
Der britische Beamte E.C. Stuart Baker sah 1920 in einem Dorf ein Mädchen, das auf allen Vieren lief, nicht sprechen konnte und schnüffelte wie ein Tier.
Die Bewohner erzählten, das Kind sei mit zwei Jahren von einem Leoparden entführt worden, weil kurz zuvor sein eigenes Junges gestorben war.
Erst drei Jahre später habe man das Tier töten und das Mädchen befreien können. Beweise für diese Geschichte wurden nie gefunden.
Der Fall Kaspar Hauser
Es gibt einige weitere Fälle, in denen Kinder völlig isoliert aufwuchsen, auch wenn Tiere dabei keine Rolle spielten. Auch diese Kinder werden Wolfskinder genannt. Der bekannteste Name ist Kaspar Hauser.
Der Jugendliche tauchte 1828 in Nürnberg auf, mit zerfetzter Kleidung und einem Zettel mit seinem Namen und Geburtsjahr in der Tasche. Er konnte nicht sprechen, lernte es aber innerhalb weniger Jahre.
Dann erzählte er, er sei zwölf Jahre in einem dunklen Kerker bei Wasser und Brot eingesperrt gewesen und habe nie einen Menschen gesehen. Kaspar Hauser konnte im Dunkeln sehen – kein Wunder, wenn er so lange im Dämmerlicht gelebt hatte.
1833 starb er nach einer Stichverletzung. Womöglich hatte er sich selbst getötet. Wer Kaspar wirklich war, bleibt bis heute ein Rätsel.
Das Mädchen Genie
Noch grausamer erscheint die Geschichte eines Mädchens, das Anfang der 1970er-Jahre in Los Angeles befreit wurde. Sie wurde später "Genie" genannt.
Der unter Verfolgungswahn leidende Vater hatte das Kind zwölf Jahre lang in einem verschlossenen Zimmer eingesperrt, gefesselt an einen Toilettenstuhl.
Niemand aus der Familie durfte mit dem Kind reden. Genie lebt bis heute in einem Pflegeheim, sie hat sich von der grausamen Behandlung nie erholt.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.