Abgas-Skandale und Kartellvorwürfe - trotz traumhafter Renditen und unverändert hohen Absätzen: Die deutsche Automobilbranche durchlebt turbulente Zeiten. Der Rückhalt aus der Politik schwindet und es ist ungewiss, ob Deutschland auch im Mobilitätsmarkt von morgen seine Marktführerschaft beibehalten kann. Zur Zukunftsfähigkeit der deutschen Automobilbranche.
808.491 Menschen haben laut dem Statistikdienst Statista im Jahr 2016 in der deutschen Automobilindustrie gearbeitet, fast die Hälfte davon alleine in Bayern.
Der bayerische IG-Metall-Chef Jürgen Wechsler sagte der Nachrichtenagentur dpa: "Wir reden über gut 400.000 Arbeitsplätze und die Kernbranche der Industrie in Bayern. Diese Rolle und die Arbeitsplätze dürfen nicht gefährdet werden."
Relevanz der Automobilbranche
Auch andere Zahlen belegen die Relevanz der Branche in ganz Deutschland: 2016 generierte der Wirtschaftszweig einen Umsatz von etwa 400 Milliarden Euro. 7,7 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung Deutschlands hängen direkt oder indirekt von der Autoproduktion ab.
Fahrzeuge sind zudem das wichtigste Exportgut der Bundesrepublik: 2016 gingen etwa 4,4 Millionen Autos aus deutschen Produktionshallen ins Ausland, was Ausfuhren von mehr als 228 Milliarden Euro entspricht - und damit fast einem Fünftel aller deutschen Exporte.
Und auch die Forschung rund ums Auto ist ein gigantischer Faktor in Deutschland: Fast 39 Milliarden Euro flossen aus Deutschland in Forschung und Entwicklung.
Davon wurden laut Angaben des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) fast 22 Milliarden Euro hierzulande ausgegeben und mehr als 110.000 Mitarbeiter beschäftigt.
Branche steht vor großen Herausforderungen
Dieser gigantische Player steht momentan auf tönernen Füßen. Schuld daran ist eine Reihe von Verfehlungen, Anschuldigungen und Vermutungen in den vergangenen Jahren.
Schon jetzt sind Folgen sichtbar, die vor wenigen Wochen als undenkbar galten. Deutsche Politiker gehen parteiübergreifend auf Distanz.
Sogar Branchenfreund und Bundesverkehrsminister
Die Europäische Union prüft eine Klage im Rahmen der sogenannten Abgasaffäre und kann dabei bis zu zehn Prozent des Jahresumsatzes verlangen.
Allein Volkswagen könnte so ein Bußgeld von bis zu 21 Milliarden Euro drohen. Bis zu 40 Milliarden könnten insgesamt auf deutsche Autobauer zukommen, sollte die EU sie alle zu Strafen verurteilen.
Und nach Norwegen hat nun auch die Regierung in Großbritannien das Ende der Verbrennungsmotoren in ihrem Land angekündigt und will von 2040 an keine Diesel- und Benzinautos mehr zulassen.
Und auch in Deutschland könnte bald das Ende der Verbrennungsmotoren folgen: Im Oktober 2016 bereits berichtete der "Spiegel", dass der Bundesrat parteiübergreifend von 2030 an keine Autos mit Benzin- oder Dieselmotoren mehr neu zulassen wolle.
Die Folgen einer Abschaffung von Verbrennungsmotoren
Das Problem: Diese Maßnahme kostet Arbeitsplätze. Der Allgemeine Deutsche Automobil Club (ADAC) schätzt, dass für den Bau eines Fahrzeuges mit Elektroantrieb ein Zehntel des bisherigen Personals ausreichen würde.
Das Münchner Wirtschaftsinstitut Ifo hat die Auswirkungen eines möglichen Verbots von Verbrennungsmotoren in einer Studie untersucht.
Das Ergebnis: Ein Zulassungsverbot von 2030 an könnte deutliche Einbußen für Beschäftigung und Wertschöpfung in Deutschland zur Folge haben.
Mehr als 600.000 der heutigen Industriearbeitsplätze wären direkt oder indirekt betroffen und damit zehn Prozent der Beschäftigten in der deutschen Industrie.
In der Automobilindustrie selbst wären 426.000 Jobs gefährdet, 130.000 Arbeitsplätze bei kleineren und mittleren Unternehmen. Die deutsche Bruttowertschöpfung könnte um bis zu 13 Prozent sinken, was einem Wert von etwa 48 Milliarden Euro entsprechen würde.
Das wirtschaftsnahe Ifo-Institut stellt den Autobauern dennoch eine gute Zukunftsfähigkeit aus: "Deutsche Hersteller und Zulieferer sind internationale Spitzenreiter bei Antriebspatenten. Demnach stammt weltweit jedes dritte Patent im Bereich Elektromobilität (34 Prozent) und Hybridantrieb (32 Prozent) aus Deutschland. Die Angaben beziehen sich auf den Zeitraum der Jahre 2010 bis 2015", schreibt das Münchner Institut in einer Pressemitteilung zur Studie.
Völliger Abschied in absehbarer Zeit unwahrscheinlich
Zudem macht der Branche Mut, dass ein völliger Abschied von Verbrennungsmotoren in absehbarer Zeit unwahrscheinlich ist. "Die Zukunft wird geprägt von größerer Vielfalt von Energieträgern und Antriebssystemen. Elektrofahrzeuge für bestimmte lokale Anwendungen, Verbrennungsmotoren für Langstrecken und LKW sowie Hybridantriebe, die die Vorteile beider Systeme vereinen", formuliert Roland Baar, Leiter des Bereichs Verbrennungskraftmaschinen an der TU Berlin in einem Debattenbeitrag für den "Tagesspiegel".
Klar ist: Die deutsche Automobilindustrie ist wie große Geldhäuser - die Bankenkrise hat es bewiesen - aufgrund ihrer Relevanz für Deutschland "too big to fail". Umso mehr muss sie sich den neuen Bedingungen des Marktes anpassen.
"Die heutige Automobilindustrie verdient ihr Geld mit konventionellen Autos, und möchte dieses bequeme Geschäftsmodell nicht gefährden", schreibt Eicke Weber, ehemaliger Leiter des Fraunhofer Instituts für Solare Energieforschung in Freiburg, im "Tagesspiegel".
Und weiter: "Ohne den raschen Aufbau eines heimischen Marktes für die E-Mobilitäts-Produkte erreichen wir nicht die Stückzahlen, die für kostengünstige Produktion erforderlich sind, und werden auch in dieser Zukunftstechnik aus den USA und Asien überrollt werden, mit drastischen Schäden für unsere Volkswirtschaft. Dies kann sich die deutsche Volkswirtschaft eigentlich nicht erlauben."
Bundesregierung geht auf Distanz
Diese Erkenntnis hat sich inzwischen auch in der Bundesregierung durchgesetzt.
Die galt jahrelang als erster Fürsprecher und Partner der Branche, geht aber nicht zuletzt aufgrund der jüngsten Skandale immer mehr auf Distanz.
Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) hatte jüngst eine zu große Nähe zwischen der Politik und der Autoindustrie kritisiert. Der Staat habe es in der Vergangenheit zu häufig an Distanz zur Automobilindustrie mangeln lassen.
"Aber ich glaube, es kann die Beurteilung nicht falsch sein, dass die Nähe zwischen Politik und Industrie in der Vergangenheit vielleicht doch zu groß war", sagte sie am vergangenen Donnerstag bei einem Besuch in bei Volkswagen in Wolfsburg.
Und auch Bundesverkehrsminister Dobrindt ging die Branche im Gespräch mit der "Bild am Sonntag" ungewohnt brüsk an und attestierte ihr im Rahmen der jüngsten Kartellvorwürfe, "sich in richtig schweres Fahrwasser gebracht" zu haben.
Als Nokia mit seiner Systemrelevanz kollabierte, geriet ganz Finnland in eine Rezession. Es ist unwahrscheinlich, dass die ebenso bedeutende deutsche Automobilindustrie zusammenbricht und damit auch Deutschland in einen Abwärtsstrudel reißt.
Doch inzwischen scheint es der Branche, der Politik und auch der Öffentlichkeit klar zu sein, dass Veränderungen notwendig sind: im Umgang miteinander, im Selbstverständnis des Wirtschaftszweigs und hinsichtlich der anzubietenden technischen Lösungen für die Mobilitätsherausforderungen der Zukunft.
Die Automobilbranche muss nun entscheiden - denn ihre Zukunft steht auf dem Spiel.
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