Das "Tatort"-Schauen am Sonntagabend vereint die Generationen. Und teilt sie wiederum, denn einig ist sich das Publikum in den seltensten Fällen. Woche für Woche streiten die Zuschauer in den eigenen vier Wänden und den sozialen Netzwerken über die Frage: Was macht einen guten "Tatort" aus?
Die zweite Auflage des außergewöhnlichen Weimarer "Tatorts" mit den Ermittlern Lessing (
Die Diskussion ist Fluch und Segen zugleich. Einerseits wird vor allem auf Twitter viel geschimpft, andererseits hält gerade diese Publikumsbeteiligung das Format am Leben. Aber worüber regen sich die Zuschauer vor ihren Second Screens eigentlich auf? Ist eine Sendereihe, die seit 46 Jahren ausgestrahlt wird, ohnehin Veränderungen unterworfen? Was passiert, wenn man bei einer Sendung versucht, die Zeit anzuhalten, hat zuletzt das Beispiel von "Wetten, dass..?" gezeigt.
Klischees und Drehbuch-Anarchie
Im Gegensatz dazu sind beim "Tatort" Ironie und Überzeichnung erlaubt. In Münster, Wiesbaden oder Weimar nimmt man sich das zu Herzen und spielt gerne mit den Erwartungen an das Krimi-Genre. Während die Produktionsteams in anderen Städten die übliche Mischung an Sozialkritik, Lokalkolorit und Polizeiklischees anrühren, traut man sich hier auch an moderne Interpretationen und absurde Handlungsstränge. Im jüngsten "Tatort" fanden sich beispielsweise Dialogzeilen wie "Seien Sie nicht kindisch, Herr Windisch!" oder diese hier:
Bezeichnenderweise liefen am Neujahrstag "Der irre Iwan" aus Weimar und die Wiederholung des Wiesbadener "Tatorts" "Im Schmerz geboren", der 2014 ebenfalls polarisierte. 54 Tote und die ungewöhnlich poetische, surreale Erzählweise - auch das gibt die Fernsehreihe her, die 1970 mit der Folge "Taxi nach Berlin" startete.
Neue Themen, neue Kommissare
Damals war die Idee noch, die Arbeit der Kommissare möglichst realitätsnah nachzuzeichnen. Ermittlerduos wie Stoever und Brockmöller oder Ehrlicher und Kain streiften durch ihr Revier und suchten so lange nach den Tätern, bis sie gefunden waren, eine feste Dauer der Folgen gab es noch nicht. Computer und Internet waren in der Polizeiarbeit noch Fremdwörter, also ermittelten die Kriminalisten analog. Die Zuschauer begeisterten sich trotzdem für endlose Zeugenbefragungen und Einstellungen von Stadtpanoramen.
Der "Tatort" beschrieb über die Jahrzehnte auch die Entwicklungen in der Bundesrepublik: Von der Technik über die Kleidung hin zu politischen Haltungen war die Serie auch immer ein Dokument des Wandels. Wiedervereinigung, Organhandel und Globalisierung spiegelten sich ebenso in den Drehbüchern wie heutzutage Mobbing oder Terrorismus. Nun ist auch Platz für die eigene Meinung der Kommissare, die sich früher nicht zur Moral der Handelnden äußerten.
So weit es geht, bleibt dafür die Privatleben der Kommissare im Hintergrund. Hin und wieder erfährt der Zuschauer von einem Gehirntumor oder einer schlimmen Trennung. Das Schicksal des Hamburger Hauptkommissars außer Dienst, Jan Casstorff, gespielt von Robert Atzorn, präsentiert das Format geradezu ausführlich: Der alleinerziehende Vater pflegte eine Affäre mit Oberstaatsanwältin Wanda Wilhelmi. Solche Einblicke sind eher typisch für die modernen Folgen. Auch bei Lessing und Dorn (Weimar) geht es privater zu. Die beiden haben ein gemeinsames Kind und werden heiraten. Früher wären solche internen Verstrickungen undenkbar gewesen.
Am Rande des Wahnsinns
Sowohl die nüchternen als auch die abgedrehten, überraschenden "Tatort"-Folgen haben ihre Fans. In den letzten Jahren trauten sich die Macher immer öfter an die Grenzen der ursprünglichen Idee. Ein waghalsiges Unterfangen, denn schließlich lebt das Konzept auch von seinen strengen Regeln: Die Ausstrahlung am Sonntagabend, der immer gleiche Vor- und Abspann, die Schilderung aus Sicht der Kommissare und die Aufklärung des jeweiligen Falles.
Kleine Ausbrüche aus diesem starren Korsett verraten allerdings: Der "Tatort" lebt. Laufend erscheinen neue Ermittler auf der Bildfläche, für 2015 ist zum Beispiel der erste "Tatort" aus Franken geplant, und um sich zu behaupten, werden auch die Einfälle immer origineller. So werden wir in Zukunft wohl öfter chaotische Fälle wie den aus Weimar im Ersten sehen, wohl wissend, dass wieder beschauliche Fälle vom Bodensee oder aus Lüneburg auf uns warten.
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