30 Jahre Modern Talking, das heißt auch 30 Jahre Ballonseide, Vokuhila und Faustgitarre. Dieter Bohlens Haussender RTL ist das ein zweistündiges Spezial wert. Und da Bescheidenheit nicht gerade Bohlens Stärke ist, handelt "30 Jahre Modern Talking - Die ganze Wahrheit!" vor allem von ihm.

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Dieter Bohlen hat ein Problem. Ein ganz gewaltiges sogar. Nicht etwa mit sich selbst: Das ist außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Aber mit so ziemlich allen anderen. Den Kritikern, den Medien und dem Publikum. 30 Jahre ist es her, dass er mit Modern Talking die Hitparaden stürmte. Die "einzige Gruppe mit fünf Nummer-eins-Hits in Folge", wie er in der eigens zum Bandjubiläum spendierten Dokumentation von RTL etliche Male wiederholt. Trotzdem wollen die Kritiker, die Medien und das Publikum noch immer nichts mit seiner Gruppe von Weltformat zu tun haben. Sie ist der Treppenwitz der Musikgeschichte. 120 Millionen verkaufte Alben und kein bisschen Respekt. Und das geht ihm tierisch auf den Sack, um es mal in seinem Jargon zu sagen.

Also jetzt die Richtigstellung bei dem Sender, der ihm seine zweite Karriere ermöglichte und dem er seit zehn Jahren als TV-Scharfrichter Bestquoten beschert. "30 Jahre Modern Talking - Die ganze Wahrheit" heißt das zweistündige Special, das natürlich vor allem Dieter Bohlens Wahrheit ist. Der Mann, der Mythos, die Hitmaschine. So, wie er sich selbst sieht. Und so, wie es der Rest der Welt auch tun sollte.

Aber vielleicht liegt genau da das Problem. Dieter Bohlen ist grundehrlich. Das ist im Pop-Geschäft eine seltene Eigenschaft. Hier will man zwar möglichst viel Geld verdienen, aber möglichst wenig darüber reden. Bohlen tut genau das. Im Rückblick auf seine Band Modern Talking heißt es an keiner Stelle, er wolle Songs schreiben, die etwas bedeuten, sein Innenleben vertonen oder gar Kunst machen - die üblichen Floskeln eben. Was Bohlen will, ist: "Welterfolg" und "ausgesorgt haben". Er geht an die Musik heran so wie an seinen eigentlichen Beruf: als Kaufmann.

Das Konzept geht auf

1984 trifft der bis dahin erfolglose Komponist auf den bis dahin erfolglosen Sänger Thomas Anders. Für 500 D-Mark singt er ihm den Song "You’re My Heart, Your’re My Soul" ein. Bohlen wittert den Hit: Er hat die hübsche Marionette für seine Songs gefunden. Das Konzept geht auf. Ein Jahr später treten beide unter dem Namen Modern Talking in der Musikshow "Formel Eins" auf. Das Lied wird ein riesiger Erfolg, obwohl Moderator Ingolf Lück im Rückblick erklärt, er habe sich alle Mühe gegeben, die Gruppe so schlecht wie möglich anzusagen.

Schon damals zeigt sich: Modern Talking sind wahnsinnig erfolgreich - nur wahrhaben will das keiner. Dieser Zwist mit dem Rest der Welt setzt sich in den folgenden Jahren fort. Auf der einen Seite die Band und ihre immer größer werdende Fanschar, auf der anderen die Spötter. Dazwischen scheint es nichts zu geben.

Bohlens Ehrgeiz stachelt das nur weiter an. Die Witze über den Proll in Ballonseide, mit Vokuhila und Faustgitarre, die Songs mit den immer gleichen Akkorden: Sie schmerzen, aufhalten können sie ihn aber nicht. Wieso auch, er streitet es ja nicht mal ab: "Das ist ein bisschen wie bei Mercedes", sagt er in der Doku über seine Lieder. "Alles gleich lassen, aber so ein bisschen verändern." Kopieren als Prinzip - aber wenn, dann bitte auf dem Niveau eines Nobelkarossen-Herstellers.

Die Dokumentation ist natürlich eine Einmannshow

Nun hätte eine Dokumentation über Modern Talking sicher viel Stoff geboten, um in die Vollen zu gehen. Erfolg (120 Millionen verkaufte Alben!), Skandale (Nora und die Kette!), übergroße Egos (Dieter Bohlen!): Modern Talking hatten alles, was eine durchschnittliche von einer großartigen Band trennt. Viel sieht man davon nicht. Stattdessen gibt es immer wieder Einspieler aus der unsäglichen Zeichentrickverfilmung der Bohlen-Biografie. Einzig Thomas Anders sorgt ab und zu für kurze Akzente. Etwa, als der Sänger berichtet, wie er seinen Partner zweimal vor einem Auftritt in Frankreichs größter Fernsehshow sitzen lässt. Bohlen kocht noch heute vor Wut. Anders lacht schallend. Was war das doch für ein Leben als Superstar!

Der Rest der zwei Stunden ist eine Einmannshow. RTL weiß, was es Bohlen schuldet, und Bohlen weiß, was er dem Kölner Sender verdankt. Denn die Witzfigur, die blieb er auch nach dem Ende von Modern Talking. Erst RTL erkannte, dass diese Kombination aus gnadenloser Ehrlichkeit und Arroganz Unterhaltungswert hat. Der "Pop-Titan" war geboren.

Endlich: Respekt!

Seit zehn Jahren beleidigt nun Bohlen im Auftrag des Senders Menschen, die glauben, sie hätten das Zeug zum "Superstar" oder "Supertalent". Einer, der Musik immer nur nach BWLer-Kriterien entworfen hat, erklärt anderen, ob ihn das "emotional" berührt oder nicht. Für den "Pop-Titan" brachte das ein lange vermisstes Gefühl mit sich: Respekt. Junge Menschen sahen so zu ihm auf, wie er schon immer auf sie herab gesehen hatte. Der 59-Jährige war auf einmal das Role Model in einer Welt, in der es nicht darum geht, womit man Erfolg hat, sondern vor allem, dass man ihn hat. Und wer könnte dafür ein besseres Vorbild sein als Dieter Bohlen?

Das Grundproblem des "Pop-Titans" löst das natürlich bis heute nicht: Zwar respektieren ihn die Deutschen als den "Camp David"-Onkel aus dem Fernsehen mit den fiesen Sprüchen und dem Zahnpastagrinsen, Modern Talking finden sie aber immer noch doof. Das wurmt Bohlen. Das ist in der RTL-Dokumentation nicht zu übersehen. Entweder man liebt ihn oder man liebt ihn. Dazwischen gibt es für ihn nichts. So wie die Russen, die Modern Talking nach dem Fall der Grenzen mit Limousinen, Menschenmassen und Gekreische empfingen. Das ist die Reaktion, auf die er in Deutschland seit 1984 wartet.

Geschehen wird das glücklicherweise auch in den nächsten 30 Jahren nicht. Dieter Bohlen mag noch so sehr von sich und seiner Leistung überzeugt sein: Anspruch und Erfolg, das ist eben doch nicht dasselbe. Sein Ehrgeiz hat ihn zum Millionär gemacht. Nicht mit Kunst, sondern mit Produkten, die auf die Masse zugeschnitten sind. Egal ob Musik oder Fernsehen: Bohlen weiß, was gefällt und wie er die niedersten Instinkte des Publikums anspricht. Das ist seine Stärke und unsere Schwachstelle. Nur erinnert werden, erinnert werden wollen wir daran nicht.

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