Kennen Sie den Film "Und täglich grüßt das Murmeltier"? Falls ja: Stellen Sie sich mal vor, Bill Murray spielt Dr. Christian Drosten und der Murmeltiertag ist eine Corona-Welle. Sie wachen also jeden Morgen auf und beschwören Politik und Gesellschaft, sich mit ihren Mitmenschen und der Gesellschaft, insbesondere den vulnerablen Gruppen und den Kindern, solidarisch zu zeigen und sich darum medizinisch vernünftig und aus wissenschaftlicher Sicht verantwortungsvoll zu verhalten - aber knapp 20 Prozent der Deutschen gefallen sich in der Rolle als Impf-Rebellen und verbreiten trotzdem nimmermüde und in zunehmend rauerer Gangart allerlei Halb- bis Garnicht-Wahrheiten zum Thema Corona und Corona-Impfung.
So engagiert und unerschrocken, als gäbe es vom Reichsamt für Desinformation, Spaltung und Aufhetzerei am Monatsende hohe sechsstellige Prämien für jeden, der mindestens 4.000 Impfbefürworter anonym im Internet beleidigt und dabei regelmäßig die Buzzwords "Langzeitfolgen", "Genexperiment" und "Totimpfstoff" benutzt.
Rage statt Recherche
Stichwort Reichsamt für Desinformation, Spaltung und Aufhetzerei: Die BILD, naja, "Zeitung", hat das Sendeschema ihres Bewegtbild-Ablegers BILD TV umgestellt. Schon knapp drei Monate nach Start des ursprünglich mal als Fernsehsender konzipierten Auffangbecken für zwangsechauffierte Empörungsjunkies mit Fakenews-Hörigkeit und Selbstdarstellungs-Neurosen.
Kaum hat der Sender mal einen Quotendurschnitt von nur 0,0 bis 0,1 Prozent, wird bereits am offenen Herzen operiert. Nicht unbedingt eine Maßnahme, die vermuten lässt, die Chefs der hochmotivierten Arbeitsgruppen "Entrüstung statt Empathie" und "Jähzorn statt Journalismus" würden noch an einen Erfolg der bisherigen Strategie glauben. Rage statt Recherche - noch geht diese Rechnung nur bei einem offensichtlich recht überschaubaren Sammelsurium an Zuschauern auf. Reichsbürger-TV für die Klientel, die sich bereits vollständig aus dem vernunftbasierten Diskurs verabschiedet hat.
Gut, ein bisschen liegt das vielleicht auch am Mut zum Krawall, mit dem die Moderations-Crash-Test-Dummies den zumeist fehlenden Fakten-Hintergrund ihrer Behauptungen zu übertünchen versuchen. Da stehen sie dann alle im Studio, zuweilen mehr Moderatoren als man Zuschauer hat. Dann keifen alle auf Knopfdruck um die Wette, als hätte jemand auf einer Klassenfahrt für schwererziehbare Problemjugendliche versehentlich Crack in die Frühstücktees gemischt.
Dabei hatte doch alles so gut angefangen. Ein ehemaliger Chefredakteur, der inzwischen gehen musste, weil er mehr Affären mit Mitarbeiterinnen gesammelt hatte als Wolfgang Kubicki Fettnäpfchen, hatte das Format "Viertel nach Acht" erfunden. Eine fast nostradamische Meisterleistung, denn die märchenhafte Erfolgsstory zeigte schnell, dass "Viertel nach Acht" etwa ein Viertel von Acht Zuschauern begeistern konnte. Und insgesamt tummeln sich im Orchester der Furor-Fetischisten bei BILD TV mehr erfolgreiche Erfinder als im Warteraum des Patentamtes in Silicon Valley.
Knallhart-Reporter
Solidarität mit BILD TV!
Aber mal Spaß beiseite. Ich finde, man muss auch mal Mut zur Kontinuität haben. Das ist wie beim Fußball. Alle drei Monate den Trainer zu wechseln, hat selten nachhaltigen Erfolg gebracht. Ein Team und eine Idee müssen zusammenfinden, lernen, gedeihen, sich entwickeln und dann zu voller Blüte emporwachsen. Da darf man doch nicht nervös werden, nur weil das Team aus Moderations-Azubis noch nicht für den Grimmepreis nominiert ist.
Klar, die bluthochdruckschwangeren Verbal-Hooligans aus dem BILD TV-Studio als Live-Moderatoren einzusetzen und sich dann zu wundern, dass man weniger Zuschauer hat als der Knabenchor der Freiwilligen Feuerwehr Detmold-Barkhausen, ist etwa so, als würde Hansi Flick für die Nationalmannschaft Thomas Gottschalk, Heino Ferch, Til Schweiger, Michael Wendler,
Ahnungslos durch die Nacht
Aber ich bin vom Thema abgekommen. Denn eigentlich wollte ich vom Murmeltiertag euphorisch überleiten zum Freedom Day! Endlich ist es so weit: Ganz Deutschland hat begriffen, dass nur mit der Schließung der Impflücke realistisch irgendwann im Laufe des kommenden Jahres vielleicht mit einer Normalisierung der Corona-Situation zu rechnen ist. Ganz Deutschland? Nein! Ein von unbeugsamen Querdenkern bevölkertes Internet hört nicht auf, dem Eindringling Vernunft Widerstand zu leisten.
Heute, wo sich mittlerweile kaum jemand daran erinnern kann, wann er das letzte Mal ohne FFP2-Maske in eine Bankfiliale gegangen ist (und jeder unter 35 sich fragt: Was ist eine Bankfiliale?), ist die Botschaft bei einem bestimmten Milieu immer noch nicht angekommen. Dem Milieu, das Screenshots und Sharepics auf Telegram für seriösere Wissenschaft und vertrauenswürdigere virologische Analysen hält.
Da ist man immer noch davon überzeugt, die gesamte Corona-Situation wäre eine von den Medien zu einer Generalpanik hochgeputschten Grippewelle, der Impfstoff dagegen wäre gleichsam nutzlos wie gefährlich und würde die DNA verändern und unfruchtbar machen. Wer so was glaubt, der ist auch überzeugt, Juden würden die Weltherrschaft an sich reißen wollen und würden daher auf einem geheimen Stützpunkt der Area 51 Reptiloide in Menschengestalt züchten, die sie weltweit als hochrangige Politiker einschleusen.
Klingt im ersten Moment lustig und man möchte antworten: Ist doch klasse, dann sichere ich mir mal schnell so viele Aluhut-Aktien wie möglich und bin nächstes Jahr Milliardärin, aber leider ist der intellektuelle Verfall der hetzaffinen und faktenimmunen Schwurbel-Subkultur eines der größten Probleme unserer Zeit.
Verschwörungslegenden der Leidenschaft
Haben Menschen, die an Chemtrails glauben oder daran, dass Elvis noch lebt, früher relativ isoliert in ihren Kellern am PC gesessen und in dubiosen Chaträumen mit Gleichgesinnten darüber philosophiert, dass die amerikanische Regierung Amokläufe an Schulen inszeniert, um die Waffengesetze zu verschärfen, sind sie heutzutage gut organisiert und können via Telegram-Absprachen gezielt Meinungen, Menschen oder Meldungen so lange mit verschwörungsmythischen Schwurbel-Kommentaren kontaminieren, bis sich der vernunftbasierte Normalsterbliche genervt zurückzieht und das öffentliche Feld der Social Media Meinungsmache der Armee der geistigen Finsternis überlässt.
Dabei wird kein abscheuliches Klischee ausgelassen. Neue Corona-Mutationen dienen als Beweis dafür, dass es der Regierung einzig und allein darum geht, fleißig Argumente und Ausreden dafür zu finden, dass man sich in Zukunft alle vier Monate gegen Corona impfen lassen muss. Und natürlich, um rassistische Querverweise zu ziehen, wenn eine neue Variante beispielsweise erstmals in Südafrika entdeckt wurde.
Insgesamt ist bei den als Impfskeptikern verniedlichten Solidaritäts-Verweigerern der Anteil an Rassisten überwältigend hoch. Einer Forsa-Umfrage zufolge wählen über 50 Prozent der Ungeimpften AfD. Also etwa fünfmal so viele wie im Bundesdurchschnitt. Zufall? Wenn man jetzt noch mit einberechnet, dass weitere 15 Prozent der Ungeimpften Wähler der Partei "Die Basis" sind, muss man attestieren: wohl kaum.
Zwei Drittel der wahlberechtigten Ungeimpften votieren für Parteien aus dem ultra rechten Sprektrum. Das spricht eine ziemlich eindeutige Sprache. Oder wie Philipp Jessen es dieser Tage auf Twitter formulierte: "Man verhandelt nicht mit Terroristen. man hört PEGIDA und AfD nicht zu. Man muss keine Rücksicht auf Impfskeptiker und Verschwörungstheoretiker nehmen."
Nicht verwunderlich, dass diesem Fazit im Prinzip nichts hinzuzufügen ist, denn Philipp Jessen ist sehr viel schlauer als ich und hat in den letzten Monaten durch eisenharte Disziplin, ein Rocky-würdiges Trainings- und Sportprogramm sowie konsequentes Cola Zero Embargo etwa 43 Kilo abgenommen.
Falls Sie sich übrigens nach noch mehr außergewöhnlichen Weisheiten und messerschaffen Analysen von Herrn Jessen sehnen, suchen Sie ihn doch einfach auf Twitter und fragen Sie ihn dort mal, welche junge, superhübsche, megalustige, extrem kompetente und außergewöhnlich sprachbegabte Jungautorin er eigentlich genau meinte, als er seine hochgelobte Analyse der Social-Media-Performances der Parteien im Bundestagswahlkampf verfasst hat. Und mit dieser wertvollen Handlungsempfehlung sage ich: bis nächste Woche!
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