Wer kennt es nicht, das Sprichwort für alle "Wendy"-Leser und Ponyhof-Liebhaber: Das größte Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde. In Anbetracht der aktuellen Entwicklung um die Moderne Fünfkämpferin Annika Schleu und ihren Auftritt als skrupelloser Medaillen-Rambo diese Woche während der Olympischen Spiele in Tokyo könnte man über ein tagespolitisch qualifizierteres Update nachdenken: Das größte Glück der Pferde ist ein Reiter auf der Erde.
Nachdenken ist insgesamt immer eine adäquate Vorgehensweise, bevor man Entscheidungen trifft. Vor allem wichtige Entscheidungen. Oder solche, bei denen man im Brennglas der Öffentlichkeit steht.
Etwa bei einem weltweit im Fernsehen übertragenen Wettkampf. Als Schleu ihre jahrelang in hartem Training vorbereitete Chance auf das Siegertreppchen bei Olympia ob eines sich mehrfach den Hindernissen auf dem Springreit-Parcours verweigernden Pferdes namens Saint Boy schwinden sieht, ist für Rationalität nicht viel Zeit. Emotionen kochen hoch, auch Enttäuschungen.
Niemand fühlt sich gut, wenn er haarscharf vor seinem größten Ziel unverhofft gestoppt wird. Auch Annika Schleu reagiert nicht so, wie man sich verhalten sollte, wenn man von allen Seiten geliebt werden möchte.
Kommt Zeit, kommt nicht immer Rat
Nun ist es nicht immer ein erstrebenswertes Ziel, Everybody's Darling zu sein. Man muss nicht jedem gefallen. Angestachelt von einer vollkommen ausrastenden Trainerin Kim Raisner, die zunächst das nicht folgsam ihre Medaillenhoffnungen abarbeitende Pferd boxt, um ihrer Sportlerin Schleu anschließend hysterisch schreiend zu empfehlen "Hau richtig drauf!", schlägt Schleu auf das bereits vollkommen verstörten und verunsichertem Pferd ein, rammt ihm ihre Sporen in die Seite und ignoriert auch das falsch im Mund von Saint Boy sitzende Gebiss. Das war unter seiner Zunge platziert – eine inkorrekte und vor allem extrem schmerzhafte Position. Das hätte Schleu, aber vor allem auch ihrer Trainerin auffallen müssen – oder wenigstens irgendjemandem, dem vor Ort irgendetwas am Wohl der Tiere liegt.
Man kann Reitern, Menschen im Allgemeinen und natürlich auch Annika Schleu zugestehen, dass man im Rausch der Enttäuschung nicht immer die optimale Entscheidung trifft. Dass Fehler passieren, die man mit dem nötigen Abstand so nicht wiederholen würde. Ich habe immer die Philosophie verfolgt, dass jeder Fehler machen kann. Kritisch wird es nur, wenn er dieselben Fehler erneut macht, obschon er es besser wissen müsste.
Was den verstörend bizarr, vor allem aber teilweise bestialisch wirkenden Umgang Schleus und Raisners mit Saint Boy zu einer tierschutzrechtlichen Grauzone und einem imagerelevanten Super-GAU macht, sind aber vor allem die Reaktionen der Beteiligten im Nachgang. Als sich der unvermeidliche Shitstorm bereits über sie ergossen hatte und die Nation Annika Schleu und ihre Trainerin zu Staatsfeinden der obersten Kategorie ausgerufen hatten, stellt sich die Moderne Fünfkämpferin vor die Mikrofone der Welt, beklagt "fiese Kommentare" sowie "Hass" ihr gegenüber und beteuert, sie wäre mit dem Pferd "nach bestem Gewissen" umgegangen und "zu keiner Zeit grob" gewesen.
(K)einsicht
Alle Fernsehbilder zeigen unmissverständlich ein vor Angst zitterndes Pferd mit panisch aufgerissenen Augen, das von Annika Schleu geschlagen, getreten und von Kim Raisner geboxt wird. Wie man nach dem Betrachten dieser Szenen auf das Urteil kommen kann, man hätte sich fehlerfrei verhalten und wäre das eigentliche Opfer, bleibt das Geheimnis von Annika Schleu.
"Die Größe und den moralischen Fortschritt einer Nation kann man daran messen, wie sie ihre Tiere behandelt", sagte einst Mahatma Gandhi. Wenn Annika Schleu und ihrer Trainerin auch nach ausreichend Zeit zum Sammeln der Gedanken, zum Abwägen der Gesamtsituation und zur Beurteilung des Erlebten ihr Verhalten noch immer als normal ansehen, mache ich mir ernsthaft Sorgen um die Moral im Reitsport.
Wenn schon vor den Augen der Weltöffentlichkeit keine Spur von Einsicht, Reue oder Verständnis für den tausendfachen Schrei nach mehr Tierschutz eintritt – wie gehen die Protagonisten dieses Sports im alltäglichen Training hinter verschlossenen Türen wohl mit ihren Tieren um?
Systemfehler im Reitsport
Und das betrifft nicht nur Schleu und Raisner. Es wirft ein verstörendes Bild auf die gesamte Branche. So gesehen kann der Vorfall von Tokyo noch immer zu einem weiteren beliebten Sprichwort führen: Glück im Unglück. Was mit Saint Boy an jenem schwarzen Tag der Olympiageschichte ertragen musste, könnte zu einem Gamechanger in dieser Sportart führen. Leider braucht es oft einschneidende Erlebnisse oder gar Katastrophen, damit die Menschen aufwachen.
Wenn der Reitsport also klug ist und zukünftig nicht pauschal als unmenschlicher Haufen von Tierquälern verunglimpft werden möchte, dem das Wohl der Pferde zu keiner Zeit besonders wichtig erscheint, hat er die jetzt die einmalige Chance, coram publico einige Reformen einzuleiten.
Warum werden Reitern fremde Pferde zugelost, wo man doch kein Genie sein muss, um zu wissen, dass Vertrauen zwischen Pferd und Reiter von größter Bedeutung ist? Viele Reiter werden erst durch jahrelanges tägliches Training und Beschäftigen mit ihrem Pferd irgendwann zu einer verschworenen, vertrauensvollen Einheit. Nichts davon kann auch nur ansatzweise vorhanden sein, wenn man sich erst 20 Minuten kennt.
Ein Pferd ist ein Lebewesen. Mit Gefühlen, mit guten und schlechten Tagen, mit Launen. Es ist kein Gegenstand. Kein Auto oder Golfschläger. Es kann nicht wahllos ausgewechselt werden wie ein Paar Fußballschuhe. Und selbst die sind eine sehr individuelle Angelegenheit, wie wir spätestens seit dem WM-Finale 1990 wissen, als der Mannschaftskapitän und etatmäßiger Elfmeterschütze den entscheidenden Strafstoß dem späteren WM-Helden Andi Brehme überließ, weil er in der Pause Probleme mit seinem Schuhwerk hatte und auf ein neues Paar wechseln musste, das ihm nicht die gewohnte Sicherheit gab.
Aus Fehlern lernen
Saint Boy kann, so würde es einen halbwegs versöhnlichen Schlussakkord in dieser unsäglichen Episode geben, der Lothar Matthäus der Springpferde werden. Matthäus ist heute nicht nur Rekordnationalspieler, sondern auch eine Art Legende. Er steht für dynamischen Fußball, als Dynamik noch eher Nebensache auf dem Feld war und die Fans eher gemütlichen aber gleichsam filigranen Standfußballern wie Günther Netzer zujubelten, den WM-Titel 1990 und die Liebe zum Spiel.
Es spricht doch nichts dagegen, dass Saint Boy zu einer ähnlichen Ikone werden kann. Der Weckrufer einer ganzen Branche. Das Sinnbild für die Rückkehr der Vernunft in einen Sport, der mitunter Lebewesen mit Sportgeräten verwechselt. Der Reitsport steht vor einer großen Chance, Deutschland und der Welt zu zeigen, dass man aus Fehlern lernen kann und vor allem auch möchte. Und dass die Zeit für Änderungen gekommen ist. Vielleicht nicht früh genug. Aber in keinem Fall zu spät.
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