Perfektionisten spielen Bilderbuchfamilie: Im Münchner "Tatort: Lass den Mond am Himmel stehn" müssen die Kommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr den Tod eines Jungen klären. Und entlarven lauter Freundschaften, die auf Lügen bauen.
Emil liegt nicht in seinem Bett. Emil muss in die Schule, aber er ist nicht da. Die Eltern hatten einen netten Abend bei Freunden, sie sind spät nach Hause gekommen, direkt ins Schlafzimmer und haben nicht nach ihrem Sohn gesehen.
Denn auf Emil kann man sich verlassen. Mach dir keine Sorgen, sagt der Vater jetzt zu seiner Frau: Emil ist 13, Emil ist bei Freunden, Emil hat vielleicht eine Freundin. Der Vater eilt zur Arbeit, er ist so wichtig, David Kovacic ist Chirurg.
Aber die Mutter lässt sich nicht beruhigen. Judith Kovacic telefoniert, sie sucht, sie geht persönlich bei den Schellenbergs vorbei. Das sind enge Freunde, Emil war am Vorabend bei ihrem Sohn Basti zum Videospielen. Bei Bastis Vater Martin entschuldigt sie sich verlegen für ihre Panik, später würden sie bestimmt alle über ihren "hysterischen Auftritt" lachen.
Aber natürlich ist die Mutter nicht hysterisch. Emil hatte keine Freunde, und schon gar keine Freundin. Emil liegt tot an der Isar. Und Judith Kovacic (
Tatort: Batic und Leitmayr stoßen auf viele Geheimnisse
Erfahrene Zuschauer wissen, dass in Kriminalfilmen die Geheimnisse und Lügen der Bewohner gern in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur geschmackvollen Einrichtung ihrer Häuser stehen. Und bei den Kovacics und den Schellenbergs herrschen ausgezeichnete Lichtverhältnisse und sehr klare Linien. "Lass den Mond am Himmel stehn" ist sehr schön anzusehen – unheimlich schön.
Was sie nach und nach erfahren, gefällt den Hauptkommissaren
Das Fahrrad von Emil (Ben Lehmann) wird an einem Waldstück gefunden, das als Treffpunkt für anonymen Sex bekannt war. Es stellt sich heraus, dass der Junge in Bastis Schwester Hannah (Lea Zoe Voss) verliebt war.
Und dann, dass Hannah Schellenberg auch etwas verschweigt. Die fröhliche, hübsche, perfekte Hannah, die so gut Tennis spielen kann und so ein tolles Verhältnis zu ihrem Vater hat.
Wut, Mitleid und Empörung
Es gibt keinen aufwühlenderen Tod als den eines Kindes. Weshalb es keine einfachere, keine billigere Methode für Kriminalfilme gibt, um bei den Zuschauern Emotionen zu wecken. Am besten, man kombiniert den Tod auch noch mit einem Sexualverbrechen – da kochen Wut und Mitleid und Empörung von ganz alleine ganz hoch.
Dass dem neuesten "Tatort" aus München diese Tatsache bewusst ist, dass er sie einkalkuliert und eiskalt mit ihr spielt, darin liegt die Stärke dieser Folge, die Stärke des Drehbuchs von Stefan Hafner und Thomas Weingartner. Wie die Eiseskälte überhaupt "Lass den Mond am Himmel stehn" zu etwas Besonderem macht. Als würde man mit einem boshaften Grinsen von einer falschen Fährte zur nächsten geführt.
Denn die Ergebnisse von Batics und Leitmayrs Ermittlungen sind nichts im Vergleich zu dem, was die Zuschauer da mit ansehen müssen. Die Unsicherheit von David Kovacic, einem Chirurgen, dem im Umgang mit seiner Frau jedes Feingefühl fehlt.
Perfektionisten spielen Bilderbuchfamilie
Das unbeholfene Mitleid von Bastis Vater: Martin Schellenberg (Hans Löw) baut High-End-Lautsprecher, und wenn es Probleme gibt, dann setzt der Mann sich lieber Kopfhörer auf und hört klassische Musik. Das stoische Trauermanagement von Antonia Schellenberg (Victoria Mayer), die Anwältin ist und Gefühlsausbrüche schon deshalb missbilligt, weil das Essen derweil kalt werden könnte.
Und diese völlige Gleichgültigkeit ihres Sohnes Basti (Tim Offerhaus), einem Skater, der gar nicht weiß, wohin vor lauter Coolness, und der sich so unausstehlich benimmt, wie sich nur 13-Jährige benehmen können. Da wollen wir lieber nicht wissen, was das für eine Freundschaft war zwischen Basti und Emil.
Die Gleichform hat Methode
Aber wir müssen genau hinsehen. Eine Studie zum Schmerz entsteht da unter der Regie von Christopher Schier und mit der Kamera von Thomas W. Kiennast. Sie führen uns ganz nah ran an Gesten, an Gesichter und an Blicke und schaffen eine Atmosphäre, die auch dank der hervorragenden Darsteller immer beklemmender wird.
Gerade, als das tastende Tempo, die elegische Musik anfangen zu nerven, weil alles gleich schlimm scheint, spürt man: Die Gleichform hat Methode. Hier versuchen Perfektionisten, ihre Bilderbuchfamilientauglichkeit zu bewahren.
Oder ist es Kontrollwahn in seiner fürchterlichsten Form? Sind das vielleicht doch nur Menschen, die mit verzweifelten Methoden versuchen, Unbegreifliches in den Griff zu kriegen?
Ohne das Leiden von Emils Mutter und die Verwirrung Hannahs, die erst nach der Rückkehr aus dem Tenniscamp von der Tragödie erfährt, wäre das kaum auszuhalten. Irgendwann will man sie alle packen und schütteln, damit sie sich endlich gehen lassen, ihre Geheimnisse verraten, ihre Täuschungsmanöver aufgeben.
Aber als es so weit ist, da möchte man sich entsetzt einfach nur Kopfhörer schnappen und zu Vivaldi flüchten.
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