Es scheint die blanke Ironie, dass sich ausgerechnet die Boulevard-Medien derzeit auf die Dokumentation "Harry & Meghan" stürzen, deren erste drei Folgen seit Donnerstag bei Netflix zu sehen sind. Denn dort erzählen der Herzog und die Herzogin von Sussex nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern üben auch scharfe Kritik an der britischen Yellow-Press. Es geht um Skrupellosigkeit und Rassismus.

Christian Vock
Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Christian Vock dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

"Kaum jemand kennt die ganze Wahrheit. Wir kennen sie. Die Institution kennt sie. Die Medien kennen sie, weil sie mit drin stecken." Mit diesem Satz benennt Harry, Duke of Sussex, zum einen die Hauptpersonen, um die es in der lang erwarteten und von einigen sicher auch gefürchteten Netflix-Doku "Harry & Meghan" gehen wird. Gleichzeitig enthält dieser Satz, gesprochen in der ersten von drei Folgen der sechsteiligen Serie, die seit Donnerstag bei Netflix zu sehen ist, zwei Botschaften.

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Die eine ist vielleicht etwas ungewollt, mindestens aber unbewusst. Denn zu behaupten, einer der drei Beteiligten kenne "die ganze Wahrheit", ist doch recht anmaßend und berücksichtigt nicht die Perspektive anderer und schon gar nicht den Umstand, dass es so etwas wie "die ganze Wahrheit" gar nicht geben kann. Zumindest nicht in einer solchen Geschichte wie der von Harry und Meghan.

Gewollt und bewusst ist die Aussage allerdings in ihrer Wirkung. Denn sie wirkt trotzig und kämpferisch und vermittelt die Dringlichkeit und den Grund des Anliegens: Meine, unsere Geschichte, ist mehr als nur eine Geschichte. Sie ist durchdrungen von erlittenen Ungerechtigkeiten und falschen Behauptungen und es ist nun Zeit, all das geradezurücken.

Meghan: "Ist es nicht sinnvoller, unsere Geschichte von uns zu hören?"

Und genau das ist es auch, was Meghan zur Teilnahme an der Dokumentation bewogen habe, wie sie in einer Interviewsituation erzählt: "Wenn man schon so lange das Gefühl hat, dass die Leute nicht wissen, wer man ist, dann ist es schön, die Gelegenheit zu bekommen, ihnen einen besseren Eindruck davon zu geben, was passiert und wer wir sind."

Außerdem sagt sie: "In den letzten sechs Jahren wurden Bücher über uns geschrieben von Leuten, die ich nicht kenne. Ist es nicht sinnvoller, unsere Geschichte von uns zu hören?" Jein, möchte man ihr da antworten, denn die Geschichte nur von ihrer Seite zu hören, wäre genauso falsch wie sie nur von anderen zu hören.

Harry sieht neben diesem persönlichen Hintergrund noch eine andere Daseinsberechtigung der Dokumentation: "Es geht nicht nur um unsere Geschichte. Es war schon immer so viel größer als wir", erklärt der Duke of Sussex.

Was er mit "Es" meint, erfährt man bereits in den ersten drei der insgesamt sechs Folgen: das System der königlichen Institution, die britischen Medien, die Geschichte des Vereinigten Königreichs und besonders deren rassistisches Erbe.

Beginnen möchte die Dokumentation, die aus Interviewsituationen, Bildern aus Videotagebüchern der beiden, TV-Bildern und "unveröffentlichtem Material aus dem Privatarchiv" besteht, mit der privaten Geschichte von Harry und Meghan.

Über ein Snapchat-Video von Meghan sei Harry auf sie aufmerksam geworden. Schließlich habe man sich in London zu einem ersten Date getroffen, dann zu einem zweiten und bereits das dritte Aufeinandertreffen habe in Botswana stattgefunden, als Harry Meghan zu einem fünftägigen Camping eingeladen habe.

Harry: "Was meiner Mum passiert ist, darf sich nicht wiederholen"

"Sie hat alles, wonach ich gesucht habe", wird Harry einem Freund über Meghan erzählen und auch sie ist von dem Prinzen begeistert. Der Beginn einer Liebesgeschichte, die Harry so beschreibt: "Sie hat alles geopfert, was sie kannte. All ihre Freiheit, um mich in meiner Welt zu begleiten. Und schon bald darauf habe ich alles geopfert, was ich kannte, um sie in ihrer Welt zu begleiten."

Das Kennenlernen erfolgt trotz Fernbeziehung im Schnelldurchgang. Denn die Treffen seien nicht nur sehr intensiv, sondern auch heimlich erfolgt, weil Harry in Bezug auf Frauen in der Royal Family bekanntlich eine traurige Geschichte im Gepäck hat – die seiner Mutter.

"Der ständige Druck der Öffentlichkeit brachte Drama, Stress und Tränen mit sich", erzählt Harry und all das habe er immer im Gesicht seiner Mutter gesehen. Die habe alles getan, um ihre Kinder vor der Presse zu schützen und gleichzeitig sehr unter diesem Leben gelitten.

Er habe einiges an Leid der Frauen gesehen, die in das System einheirateten, so Harry, und dementsprechend groß ist seine Angst um Meghan: "Ich wusste, dass ich alles tun muss, um meine Familie zu schützen. Besonders nach dem, was meiner Mum passiert ist. Das darf sich nicht wiederholen."

Ängste, die nach dem tragischen Tod von Diana verständlich sind, und so bekommt man einen guten Eindruck, wie sehr Harry und auch der Rest der Familie unter dem Druck durch die Paparazzi gelitten haben und noch leiden.

Und auch Meghan lernt die Wucht der britischen Boulevard-Medien kennen, die jeden Stein für eine Geschichte, wahr, halbwahr oder erfunden umdrehen: "Leider stehen sie nicht für irgendwas, sie zerstören uns nur", so Meghan in der Doku.

Boulevard-Presse ist eine Mentalität

Doch diese Medienschelte ist in der Doku keine rein emotionale Abrechnung, sondern eher eine Art Analyse, die von verschiedenen Experten oder Zeitzeugen in Interviews gestützt wird. So erzählt James Holt, der ehemalige Pressesprecher der beiden, dass es ein ungeschriebenes Gesetz gebe, nach dem die Royals für die Presse performen müssten, wenn nicht würden sie in Ungnade fallen.

Über Meghan sagt Holt: "Es ist ein knallhartes Geschäft und bei Meghan gab es keine Grenzen mehr, sie war wie Freiwild." Doch zu dieser Degradierung zu Freiwild gehört noch ein anderes Problem, das nicht nur, aber eben auch die britische Presse betrifft, wie Harry feststellt: Rassismus.

Bereits bei Bekanntwerden ihrer Beziehung sei Meghans Herkunft Thema in der Presse gewesen, doch von der männlichen Seite der Königlichen Familie sei laut Harry keine Unterstützung gekommen, im Gegenteil. Es gab stattdessen den Hinweis, dass jede Frau, die in die Familie eingeheiratet hat, die Presse über sich habe ergehen lassen müssen. Warum also sollte Meghan eine Sonderbehandlung erfahren? Harry habe daraufhin entgegnet: "Ich sage: Der Unterschied ist: hier gehts um Race!"

Die Boulevard-Medien in Großbritannien dienten nicht nur der Unterhaltung, sondern seien inzwischen auch Lenker der öffentlichen Meinung, erklärt James Holt und der Buch-Autor David Olusoga sagt dazu: "Die Boulevardpresse existiert nicht nur in Form von Zeitungen, sondern auch als Mentalität. Das ist giftig."

Schwarze seien in der britischen Presse radikal unterrepräsentiert, es sei eine weiße Branche – mit Folgen: "Sie entscheiden selbst, ob etwas die Grenze zum Rassismus überschreitet."

Was ist mit der Wahrheit der anderen?

Und so sind die ersten drei Folgen der Netflix Doku zum einen ein klassisches Porträt von Harry und Meghan, das erklärt, wie sie zu dem wurden, was sie sind. Das liefern Bilder aus der Kindheit und im Fall von Meghan auch Erklärungen ihrer Mutter Doria und von Freunden und Familie.

Doch weil dieser Werdegang und das anschließende Kennen- und Liebenlernen eben bei beiden unter dem Brennglas der Öffentlichkeit stattfand, ist "Meghan & Harry" eben nicht nur ein Porträt, sondern der Versuch, mit der eigenen Sichtweise endlich sichtbar zu werden.

Weil diese bisherige Unsichtbarkeit aber für die beiden nicht nur ein persönliches Problem ist, sondern mit der Rolle der Königlichen Familie und vor allem mit der britischen Boulevardpresse und der Geschichte des Landes verknüpft ist, ist "Harry & Meghan" eben auch zu einer Anklage geworden. Doch wie fest steht diese Anklage?

An dieser Stelle ist wieder die Frage nach der "ganzen Wahrheit" relevant. Harry und Meghan schildern ihre Sicht der Dinge und das ist auch völlig in Ordnung, denn nur sie selbst wissen, wie sich die vergangenen Jahre für sie angefühlt haben. Und wenn die eben als Zeit medialen Drucks und Rassismus’ empfunden wurden, dann ist das echt und das Bedürfnis verständlich, die eigene Sicht zu erzählen.

Dennoch fehlt zu der ganzen Geschichte eben noch die Sicht der anderen: der Königlichen Familie und der britischen Boulevard-Medien. Umso bedauerlicher, als gleich zu Beginn der Hinweis erfolgt, die Mitglieder der Königlichen Familie hätten den Inhalt der Serie nicht kommentieren wollen.

So bleibt in den ersten drei Folgen eben nur die Geschichte von Harry und Meghan, die in dem Wunsch gipfelt, all das hinter sich zu lassen. Und so scheint es nicht ganz zufällig, dass die Doku ausgerechnet ein altes Interview herauskramt, in dem Meghan auf die Frage nach ihrem Lieblingslied den Nina-Simone-Song "I Wish You Could Know What It Means To Be Me" nennt.

Denn dort heißt es: "I wish you could know what it means to be me / Then you'd see and agree / That every man should be free."

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