Bei der Vierschanzentournee ruhen die deutschen Hoffnungen vor allem auf Pius Paschke. Wir haben mit Skisprung-Legende Sven Hannawald über die eigenen Tournee-Gesetze, die Voraussetzungen für einen Triumph und die Stärken von Paschke gesprochen.

Ein Interview

Herr Hannawald, hat die Vierschanzentournee ihre eigenen Gesetze?

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Sven Hannawald: Ja, die Vierschanzentournee hat tatsächlich ihre ganz eigenen Gesetze. Viele Nationen halten im Vorfeld ihre Karten zurück. Sie arbeiten im Hintergrund an Material, an neuen Anzügen, an Details, die vielleicht den Unterschied machen, auch wenn sich die Voraussetzungen geändert haben. Es darf nur noch eine bestimmte Anzahl an Anzügen genutzt werden und die Anzüge werden zur Kontrolle gechippt. Das bedeutet, dass wir keine riesigen Materialüberraschungen sehen werden, wie es sie in der Vergangenheit gab. Es soll ausgeglichener zugehen. Mit dem aktuellen Reglement passen die deutschen und österreichischen Springer perfekt in das Schema – besonders jemand wie Pius Paschke.

Paschkes Leistungsschub: Wenn alles plötzlich zusammenpasst

Paschke erlebt einen ganz starken Winter. Wie erklären Sie sich diesen späten Leistungsschub?

Das ist ein Phänomen, das man schwer erklären kann. Es gibt Zeiten, in denen du kämpfst und denkst, dass eigentlich alles passt – aber irgendwie kommt die Weite einfach nicht. Und dann gibt es diese Momente, wie jetzt bei Pius, wo plötzlich alles ineinandergreift. Er gewinnt von Sprung zu Sprung mehr Vertrauen in sein eigenes System, und das macht ihn immer besser. Da fragt man sich selbst: Was habe ich die letzten Jahre anders gemacht? Es wirkt auf einmal so einfach.

Welche Faktoren spielen bei ihm eine Rolle?

Seine Sprungintensität, seine Fähigkeit, sich schnell in neue Dinge hineinzudenken und sich anzupassen, sind unglaublich. Er versteht sofort, was funktioniert, und setzt es um. Sicherlich haben das Team und er bei seinem Sprungablauf etwas gefunden, das sich extrem auf das Ergebnis auswirkt. Aber auch beim Material – Ski, Schuhe, Bindung – haben sie Dinge gefunden, die ihm ein optimales Gefühl geben. Pius hat auch den Vorteil, dass seine körperliche Statur idealer und er weniger anfällig für wechselnde äußere Umstände wie Wetter oder auch Schanzencharakteristiken ist. Diese Anpassungsfähigkeit, kombiniert mit seinem wachsenden Selbstvertrauen, macht ihn aktuell so stark. Er hat diesen Lauf, wo alles perfekt passt.

Die Generalprobe in Engelberg verlief aus deutscher Sicht aber ernüchternd. Wie ist dieser kleine Rückschlag einzuordnen?

Die Bedingungen in Engelberg waren schwierig. Die Springer waren sich nicht sicher, welche Bedingungen sie nach dem Absprung erwischen. Das hat man ihnen angemerkt: Die Selbstsicherheit hat keiner gehabt. Außerdem war Pius nicht ganz fit und wollte es mit zu viel "Wollen" kompensieren. Das geht dann komplett nach hinten los, zumal sein erfolgreicher Sprung, wie er selbst sagt, ein Ritt auf der Rasierklinge ist. Aber die Schanzen, die jetzt kommen, werden etwas entspannter von der Herangehensweise her.

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Wie schafft er es, die starke Form für die Tournee zu konservieren?

Letzten Endes wird Pius einfach bei sich bleiben müssen. Aber natürlich gibt es Faktoren, die eine Herausforderung darstellen können, wie der unterbrochene Rhythmus. Nach Engelberg fahren alle Springer traditionell nach Hause zu ihren Familien, was sie zwar sonst auch machen, aber durch Weihnachten wird es natürlich familiärer und entspannter. Man kann ein bisschen mehr loslassen. Der gewohnte Wettkampfrhythmus fehlt. Für Pius wird es also entscheidend sein, wie er diesen Bruch verarbeitet und wieder in den Modus zurückfindet. Das ist etwas, was er nicht wirklich trainieren kann.

Was raten Sie ihm, wie er in seiner speziellen Situation als Favorit und Weltcup-Gesamtführender die Tournee selbst angehen muss?

Das Wichtigste ist, nichts anders zu machen als bisher. Natürlich wird das Drumherum intensiver, die Erwartungen kommen näher an ihn heran. Aber er muss sich darauf konzentrieren, in seinem gewohnten Rhythmus zu bleiben. Denn sobald du etwas änderst, spürst du das als Athlet sofort. Aber gleichzeitig braucht es auch ein bisschen Glück, dass alles passt und es sein Jahr und seine Tournee wird.

"Du musst die Aufregung kontrollieren können, bei dir bleiben, und darfst dich nicht von Gedanken an den Gesamtsieg ablenken lassen."

Sven Hannawald

Was sind denn generell die wichtigsten Voraussetzungen für einen Triumph? Der Kopf, die Form, das Material?

Ganz am Ende entscheidet der Kopf. Selbst wenn das Material und die Form perfekt sind, musst du mental stabil bleiben. Gerade bei der Tournee, wo der Druck unglaublich groß ist. Du musst die Aufregung kontrollieren können, bei dir bleiben und darfst dich nicht von Gedanken an den Gesamtsieg ablenken lassen. Wenn dir das nicht gelingt, klappt es nicht. Aber: Ohne gutes Material brauchst du eigentlich gar nicht erst antreten. Das hat sich im Vergleich zu meiner Zeit verändert, heute ist es elementar. Deshalb ist es gut, dass die Fis so rigoros vorgeht und dafür sorgt, dass alle "grob" auf demselben Level starten.

Wie empfinden Sie die Stimmung rund um das Team?

Ich habe das Gefühl, dass unser Trainer Stefan Horngacher dieses Jahr viel ruhiger wirkt. Das zeigt, dass er Vertrauen in das Material und die Vorbereitung seiner Springer hat. Diese Ruhe überträgt sich auf das Team, und das ist eine wichtige Grundlage, um erfolgreich zu sein. Es geht darum, alles zu kontrollieren – Material, Kopf und Form – und dann deine Chance zu nutzen.

Die Euphorie ist groß im Moment. Wie belastend kann das für einen Springer sein?

Diese Euphorie ist etwas Positives. Natürlich gibt es mehr Aufmerksamkeit und mehr Verpflichtungen, aber gleichzeitig freut man sich über diesen Moment. Es ist der Beweis, dass sich all das Training, die harte Arbeit und die Opfer im privaten Bereich endlich auszahlen. Klar, es gibt zwei Seiten – die Belastung durch die zusätzlichen Erwartungen, aber die Freude darüber, dass man endlich die Früchte seiner Arbeit erntet, überwiegt.

"Sobald eine Nation spürt, dass ein Athlet immer wieder gewinnt, wächst die Aufmerksamkeit."

Sven Hannawald

Erinnert Sie die Euphorie um Paschke ein bisschen an früher?

Ja, absolut. Man merkt, dass sich etwas verändert hat im Vergleich zu den Jahren zuvor. Das liegt auch daran, dass Pius gerade in die Fußstapfen eines Seriensiegers tritt. Sobald eine Nation spürt, dass ein Athlet immer wieder gewinnt, wächst die Aufmerksamkeit. Es ist ein bisschen wie bei einem guten Film – man möchte unbedingt das perfekte Ende miterleben, auch wenn es im Sport nie planbar ist.

Wird sich das in den Quoten niederschlagen?

Ich glaube, dass wir nach langer Zeit wieder sehr starke Einschaltquoten sehen. Ob das an die Quoten aus meiner Zeit heranreicht, ist fraglich. Damals hat das private Fernsehen den Skisprung groß gemacht, mit viel Aufwand und Fokus. Öffentlich-rechtliche Sender haben diese Möglichkeiten nicht in gleichem Maße, weil sie viele Sportarten abdecken müssen. Aber ich bin optimistisch, dass wir in diesem Jahr wieder Rekordquoten erleben könnten, zumindest im Vergleich zu den letzten Jahren.

Wie schätzen Sie die Möglichkeiten der anderen deutschen Topspringer Andreas Wellinger und Karl Geiger ein?

Geiger ist jemand, bei dem ich merke, dass er immer wieder kämpfen muss. Das ist wahrscheinlich auch sein größtes Laster – er kann sich nicht auf frühere Erfolge verlassen. Er muss jedes Mal gefühlt bei null anfangen, sich im ersten Trainingssprung heranarbeiten und seinen Rhythmus finden. Das kostet viel Energie, aber wenn es gelingt, merkt man ihm das an. Ich hoffe, dass er bei der Tournee endlich seinen Moment findet.

Und Wellinger? Er hat beim letzten Mal den Gesamtsieg knapp verpasst…

Er war derjenige, der das Ding eigentlich holen sollte. Das war richtig bitter. Wellinger trägt noch den Rucksack der hohen Erwartungen aus dem Sommer mit sich herum. Inzwischen hat Pius die Aufmerksamkeit ein Stück weit auf sich gezogen. Wenn er es schafft, locker zu bleiben und die Energie aus einer gewissen Underdog-Rolle zu ziehen, könnte auch er überraschen.

Hannawald: Gute Chancen für deutschen Gesamtsieg

Wer gehört noch zu den Favoriten und könnte Paschke gefährlich werden?

Nach dem letzten Wochenende vor der großen Vierschanzentournee in Engelberg ganz klar Jan Hörl. Er hat mit seinem Sieg ein beeindruckendes Zeichen an alle Mitkonkurrenten gesendet. Bei den weiteren Favoriten sehe ich Stefan Kraft, der im Moment vielleicht etwas weiter weg scheint. Aber Kraft hat die Erfahrung und das Können, jederzeit zuzuschlagen. Ryoyu Kobayashi würde ich für diese Tournee vom Zettel nehmen. Die Probleme scheinen größer zu sein. Stattdessen rutscht für mich Daniel Tschofenig mit rein. Auch Andreas Wellinger hat nach wie vor gute Karten mit seiner Lauerstellung.

Sind die Deutschen also endlich reif für den Gesamtsieg?

Das erzähle ich seit fünf Jahren, aber die Chancen sind so gut wie lange nicht. Ich merke, dass ich diesmal ein noch besseres Gefühl habe. Idealere Voraussetzungen als in diesem Jahr gibt es eigentlich nicht.

Über den Gesprächspartner

  • Sven Hannawald ist zweimaliger Skiflug-Weltmeister, dazu Mannschafts-Olympiasieger. Außerdem schrieb er Geschichte, als er 2002 die Vierschanzentournee mit Siegen auf allen Stationen gewann. 2005 beendete er seine Karriere aufgrund eines Burnouts. Heute ist er unter anderem als TV-Experte tätig.
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