Seit knapp sechs Jahren ist Nicolas Hilmy Kyrgios auf der ATP-Tour zu Gast - und von den ersten Gehversuchen im Profi-Zirkus an wandelt der Bad Boy des Tennis zwischen Genie und Wahnsinn. Die Fähigkeiten des Australiers mit griechisch-malaysischen Wurzeln scheinen dabei schier grenzenlos.
Nur wenige beschleunigen langsame Bälle des Gegners so wie Nick Kyrgios mit seiner Vorhand, seine Returns gehören zu den besten auf der Tour, sein Aufschlag ist eine Wucht, seine Antizipationsgabe bemerkenswert und wirklich keiner punktet unter größtem Druck und in fast aussichtslosen Situationen so spektakulär wie der 24-Jährige.
Allerdings gibt es da auch noch den anderen Nick: Den Wutkopf, den Choleriker, den Faulpelz, den Schlamper, den Rotzlöffel, den Exzentriker, den Bad Boy. Alles in einer Person. Keiner auf der Tour wird von sich behaupten können, mehr Strafen kassiert und Bußgelder bezahlt zu haben, keiner dürfte mehr Rackets zertrümmert haben. Es ist ein steter Wandel zwischen Genie und Wahnsinn, ein Tennisleben in Extremen.
Nick Kyrgios laut McEnroe "größtes Talent der letzten zehn Jahre"
Nach einigen kleineren Ausrufezeichen bei der ITF Future Tour und ein paar Grand Slams im Doppel kämpft sich Kyrgios innerhalb von nur rund zwei Jahren von Weltranglistenplatz 843 auf Rang 33 vor. Auf dem Weg dorthin gelingt ihm in Wimbledon 2014 erstmals Historisches: Mit dem Sieg über
Es ist der erste Sieg eines Spielers außerhalb der Top 100 über einen Weltranglistenersten bei einem Grand-Slam-Turnier seit 22 Jahren. John McEnroe bezeichnet Kyrgios als "größtes Talent auf der Tour der letzten zehn Jahre".
Die ersten Wutausbrüche auf der großen Bühne lassen aber nicht lange auf sich warten: Bei den US Open wenige Wochen später droht Kyrgios die erste Disqualifikation seit fast 20 Jahren. Im Match gegen Mikhail Youzhny schimpft und flucht Kyrgios wie von Sinnen, die Fans buhen den Spieler aus. Kyrgios zertrümmert seinen Schläger, wird insgesamt drei Mal verwarnt und entkommt einer vierten Verwarnung und damit der Disqualifikation nur knapp.
Beim Heimspiel bei den Australian Open 2015 setzt es die erste höhere Geldstrafe: Kyrgios flucht gleich in seinem Erstrunden-Match ganz besonders obszön und ausgiebig, wirft mehrmals den Schläger quer über den Platz. Die ATP verdonnert ihn im Nachhinein zu einer Geldstrafe von 4926 US-Dollar.
Kyrgios: "Eigentlich mag ich Tennis gar nicht so sehr"
Noch vor dem Auftritt in Wimbledon im selben Jahr sorgt Kyrgios in einem Interview mit "The Independent" für Aufsehen: "Eigentlich mag ich Tennis gar nicht so sehr. Ich liebe diesen Sport nicht", sagt Kyrgios, dessen große Liebe weiterhin Basketball ist. Bis zum Alter von 14 Jahren spielte er Tennis und Basketball, entschied sich dann aber für Tennis.
Beim Turnier im Londoner Stadtteil folgt dann fast standesgemäß der nächste Eklat. Im Achtelfinale gegen Richard Gasquet brüskiert er die feine Gesellschaft auf den Rängen mit zahlreichen unflätigen Wutausbrüchen, lässt in der Folge jeglichen Einsatz und Kampfgeist vermissen, schenkt mehr als offensichtlich Punkte ab und wird von den Fans ausgebuht.
In der Heimat entbrennt ein Streit mit der Schwimm-Olympiasiegerin Dawn Frasier, die Kyrgios nahelegt, doch einfach wieder dorthin zurückzugehen, wo seine Eltern hergekommen seien. Ein Auftreten wie dieses in Wimbledon sei eines Australiers nicht würdig.
Streit mit Wawrinka: "Kokkinakis hat deine Freundin ge***!"
Wenige Wochen später kommt es in Montreal tatsächlich zu einem handfesten Skandal. Kyrgios bepöbelt während des Matches gegen
Wawrinka hatte sich wenige Monate zuvor von seiner Frau Ilham getrennt, Kokkinakis dagegen ist Kyrgios' alter Doppelpartner und Teil der Gang der Jungen Wilden des australischen Tennis. Wawrinka formuliert damals via Twitter das, was viele Kollegen auf der Tour längst denken. "Das würde ich nicht einmal zu meinem schlimmsten Feind sagen. So tief zu sinken, ist inakzeptabel und jenseits jeder Vorstellungskraft."
Kyrgios bekommt von den Offiziellen 35.000 Dollar Strafe aufgebrummt und wird für 28 Tage von der Tour ausgeschlossen.
Unbeherrschter Kyrgios klettert auf Rang 13 der Weltrangliste
Zwischendurch spielt Kyrgios aber auch verdammt erfolgreich Tennis. 2016 holt er in Marseille seinen ersten Titel auf der Tour, danach folgen Triumphe in Atlanta und Tokio. Kyrgios klettert bis auf Rang 13 der Weltrangliste.
Das Saisonende erlebt er aber nicht mehr auf dem Court: Nach Ausrastern in Melbourne, Paris und Wimbledon summiert sich sein Geldstrafen-Konto schon auf über 200.000 Dollar, beim Masters in Shanghai überspannt Kyrgios den Bogen dann endgültig: Gegen seinen Kumpel
Exakt ein Jahr später, wieder in Shanghai, sorgt er für ein unrühmliches Novum: Im Spiel gegen Steve Johnson haut Kyrgios nach dem verlorenen ersten Satz einfach in die Katakomben ab - und kommt nicht mehr zurück. Danach erklärt er seine Aufgabe mit einem Magen-Darm-Virus.
Das Markenzeichen des Bad Boy des Tennissports: Der Kyrgios-Tweener
Längst ist Kyrgios der Bad Boy des Tennissports - aber eben auch der spektakulärste Spieler auf der Tour. Neben seinem krachenden Aufschlag und seinen aberwitzigen Returns hat er sich ein echtes Markenzeichen geschaffen: den Kyrgios-Tweener.
Das ist der Schlag durch die eigenen Beine und Kyrgios nutzt ihn nicht nur im Zurücklaufen als Abwehrball, sondern - und das hat vor ihm noch keiner in der Häufigkeit gemacht - auch als Passierschlag oder Angriffsball. Gegen Zverev packt er vier Tweener in einem Match aus, was beim Publikum überragend ankommt, bei seinen Gegnern aber eben nicht immer.
2017 und 2018 etabliert er sich unter den Top 20 der Welt, holt seine ATP-Titel vier (Brisbane) und fünf (Acapulco). In Wimbledon zeigt der Rüpel, dass er auch ganz anders kann: Bei einem Aufschlag mit gemessenen 222 km/h trifft er ein Ballmädchen am Oberarm. Kyrgios geht rüber zu dem weinenden Mädchen und begleitet sie zur Behandlung vom Platz.
In einem Blog für "PlayersVoice" sorgt Kyrgios für Aufsehen: "Ich bin nicht der Profi, den der Tennissport braucht. Das ist die Wahrheit", beginnt er seinen emotionalen Beitrag. Er wolle eigentlich gar nicht im Rampenlicht stehen, seine Lässigkeit verhindere, dass er ein noch besserer Spieler wird.
"Ich mache keine Fortschritte, die ich machen sollte, weil ich es nicht genug will. Ich nehme es nicht ernst genug. Es gibt ein ständiges Tauziehen zwischen dem Wettkämpfer in mir, der gewinnen möchte und dem Menschen in mir, der ein normales Leben mit meiner Familie abseits des öffentlichen Lichts führen möchte."
Nick Kyrgios erscheint mit Socken auf dem Court
Öfter mal was Neues dann in Cincinnati: Gegner Dennis Kudla steht zur Seitenwahl am Netz, Kyrgios will folgen - und merkt dann, dass er nur in Strümpfen auf dem Court steht. Seine Tennisschuhe hat er schlicht vergessen.
In Miami im Frühjahr 2019 legt sich Kyrgios mit Gott und der Welt an. Erst pöbelt er via Twitter gegen Angelique Kerber, dann legt er sich während eines Matches mit einem Zuschauer an. Der fordert Kyrgios zu einem Fauskampf heraus, der Spieler scheint alles andere als abgeneigt. Erst als der Fan von den Sicherheitsbeamten abgeführt wird, ist Ruhe.
Danach entbrennt eine heftige Debatte, in die sich unter anderem Andy Murrays Mutter Judy und Boris Becker einschalten. Die eine erkennt in Kyrgios weiterhin ein Genie, der andere, Becker, kann in einem Spieler, der noch nie einen Grand Slam gewonnen hat, kein Genie erkennen.
Wenige Wochen später kommt es in Rom zum Undenkbaren: Kyrgios wird nach Pöbeleien, Schlägerwürfen sowie heftigen Attacken gegen den Schiedsrichter disqualifiziert. In seiner Wut wirft er auch noch einen Stuhl auf den Court. Im Podcast "No Challenges Remaining" rund um das Turnier beleidigt er unter anderem Nadal ("schlechter Verlierer") und Novak Djokovic ("krankhaft", "abscheulich").
Brusttreffer für Nadal, keine Entschuldigung von Kyrgios
Tatort Wimbledon, nur ein paar Tage später: Im Match gegen Nadal feuert Kyrgios dem Gegner einen Ball aus kurzer Distanz voll auf die Brust. Es folgt: Keine Entschuldigung, dafür eine hanebüchene Erklärung: "Es interessiert mich nicht, warum sollte ich mich entschuldigen? Ich meine, der Typ hat wie viele Grand Slams und wie viel Geld auf seinem Konto? Ich denke, er kann einen Ball auf die Brust vertragen."
Auf der Tour ist Kyrgios längst nicht mehr nur wegen seiner irren Tweener auffällig, sondern er hat auch den Slice-Aufschlag von unten wieder salonfähig gemacht. Immer wieder streut er diesen Service ein, an dem sich die Geister scheiden: Cleveres taktisches Mittel oder respektloses Verhalten?
In Washington spielt Kyrgios einen Ball mit dem Kopf zurück, spult sein ganzes Repertoire an brillanten Schlägen ab - und fällt dann doch wieder auf, als er eine Flasche gegen den Schiedsrichterstuhl wirft ("Sie ist mir ausgerutscht") und den Schiedsrichter als "Kartoffel mit Armen und Beinen" bezeichnet.
Kyrgios mit Rekordstrafe nach Spuck-Vorfall
Cincinnati im August 2019: Beim Match gegen Karen Khachanov dreht Kyrgios völlig frei. Nach dem ersten Satz bepöbelt er Schiedsrichter Fergus Murphy, gegen den er schon länger eine regelrechte Privatfehde austrägt: "Es passiert hier zu viel Scheiße! Du bist ein verdammter Idiot!"
Kyrgios will eine Toilettenpause, Murphy stimmt dem nicht zu. Kyrgios geht natürlich trotzdem. Aber nicht, um sich zu erleichtern, sondern um im Kabinentrakt zwei Rackets zu zertrümmern. Kyrgios kehrt mit den Trümmerteilen auf den Platz zurück - und bekommt natürlich eine Verwarnung durch den irischen Stuhlschiedsrichter.
Nach der Niederlage gratuliert er brav seinem Gegner, Murphy aber verweigert er den Handschlag und spuckt stattdessen Richtung Schiedsrichterstuhl. "Jedes Mal, wenn ich spiele, macht er dumme Scheiße, jedes Mal. Er ist der schlechteste Schiedsrichter aller Zeiten", sagt Kyrgios.
Die ATP greift hart durch: Gleich vier Mal Unsportliches Verhalten, unerlaubtes Platzverlassen, hörbare Obszönitäten und verbaler Missbrauch lautete die Anklage, die Rekordstrafe betrug 113.000 US-Dollar.
Verwendete Quellen:
- The Independent: Kyrgios prefers basketball to tennis: "I don’t love the sport"
- PlayersVoice: The battle raging inside me
Nick Kyrgios nach Stuhlwurf disqualifiziert
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