Der deutsche Radsport befindet sich in einer schwierigen Situation. Die sportlichen Erfolge bleiben aus, der Nachwuchs wird weniger und auch das Fernsehinteresse lässt nach. Marcel Kittel erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion, was passieren muss.

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Marcel Kittel ist einer, der den deutschen Radsport aus der Krise führen könnte. Oder zumindest kräftig mit anpacken könnte, um ihn aus seinem Dilemma zu befreien. 14 Etappensiege hat er bei der Tour de France errungen, so viele wie kein anderer Deutscher. Leider hat der 35-Jährige seine aktive Karriere bereits 2019 beendet. Aber Typen wie ihn braucht eigentlich jede Sportart, um den Nachwuchs zu begeistern, um das Publikum zu fesseln. Eloquent, extrovertiert, lässig und natürlich erfolgreich - Stars wie Kittel sind im deutschen Radsport allerdings selten geworden.

"Die Spitze des Sports hat eine unheimliche Strahlkraft. Wir sind in einer Phase, in der die Siegertypen in Form von Sprintern am Karriereende sind oder schon aufgehört haben", sagt Kittel im Gespräch mit unserer Redaktion. Man habe immer noch starke Leute in der Breite, tolle Talente, betont der Deutsche. Wie zum Beispiel Lennard Kämna, der derzeit beim Giro gute Leistungen zeigt. Er ist einer der wenigen Lichtblicke aus deutscher Sicht. "So erfolgsverwöhnt wie früher sind die deutschen Fans im Moment nicht", sagt Kittel.

Das ist eigentlich noch freundlich ausgedrückt, denn in diesem Jahr gab es bisher nur vier deutsche Siege. Kein Vergleich zu früheren Zeiten, als der deutsche Radsport mit Größen wie Jan Ullrich, Erik Zabel oder Tony Martin zur absoluten Weltspitze gehörte. Doch es geht seit geraumer Zeit bergab. 29 deutsche Siege im Jahr 2022 bedeuteten das schlechteste Jahr seit der Jahrtausendwende. "Es ist ein klarer ein Abwärtstrend zu verzeichnen. Man merkt, dass die Krisenjahre mit den Dopingenthüllungen vor 2010 ihre Spuren hinterlassen haben", sagt Kittel. In der Tat hat der Radsport hierzulande einen hohen Preis dafür bezahlt.

Vielfältige Gründe

Doch nicht nur der exzessive Gebrauch des Blutdopings Epo und der damit verbundene Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust einer ganzen Sportart sind dafür verantwortlich, die Gründe sind vielfältig. So sorgen derzeit Verletzungen, Krankheiten oder auch Formschwächen für ausbleibende Ergebnisse. "Ich weiß nicht, ob es eine deutsche Mentalitätssache ist. Jeder hat seine eigene Geschichte, aber Fakt ist, dass die Deutschen schon einmal besser waren", sagte Teamchef Ralph Denk vom deutschen Bora-hansgrohe-Rennstall der Deutschen Presse-Agentur. "Wenn die teuren Leistungsträger nicht performen, weil sie krank sind, tut es uns doppelt weh. Dann kommt noch hinzu, dass wir uns erhofft haben, dass von einem Nils Politt oder einem Emanuel Buchmann ein Stück weit mehr Performance da ist", so Denk. Buchmann wurde 2019 Vierter bei der Tour de France, Politt gilt als Spezialist für die Frühjahrsklassiker. Beide sind aber auf der Suche nach ihrer Form. Auch Maximilian Schachmann kämpft nach Infekten um den Anschluss.

Doch die Krise ist nicht nur vorübergehend, die Ursachen liegen tiefer, fangen an der Basis an. "Wir haben immer noch eine gute Förderung, ein gutes Scouting und gute Strukturen", betont Kittel. Aber die Masse an radsportbegeistertem Nachwuchs ist nicht mehr da, die Vereine sind auch strukturell stärker gefordert, die Nachwuchsarbeit trotz schrumpfender Basis in vollem Umfang zu leisten. Vieles läuft ehrenamtlich. "Diese Menschen machen einen guten Job, es ist aber schwerer geworden", so Kittel. Zudem sei der Weg von der Basis nach oben lang, nur wenige kämen an der Spitze an. Und wenn weniger Nachwuchs nachkommt, "dann ist es logisch, dass wir weniger Profis und weniger Top-Talente haben, weil die Basis kleiner ist. Es muss mehr Nachwuchs rankommen", fordert Kittel. Die große Frage, die es zu beantworten gelte, so der ehemalige Sprintspezialist: "Wie bekommt man die Generation Alpha dazu, sich auf das Rad zu setzen und den Sport auszuprobieren?"

Neue Konzepte setzen auf Spaß, Geschicklichkeit und Sicherheit

Eine Antwort gibt Kittel selbst: "Es muss etwas passieren, mit neuen Leuten und neuen Ideen. Mit guten Konzepten ist noch viel möglich." Diese werden bereits umgesetzt, zum Beispiel im Mountainbike-Bereich. Dort wird nicht nur auf Wettkampf, sondern auch auf Spaß, Geschicklichkeit und Sicherheit gesetzt. "Das kommt gut an, es gibt großes Interesse und große Trainingsgruppen, weil es Spaß macht. Und darum geht’s", so Kittel. Gleichzeitig soll das Radsportsterben vor allem im Nachwuchsbereich, aber auch bei den Profis gestoppt werden. "Da kämpft auch der BDR (Bund Deutscher Radfahrer, Anm. d. Red.) gegen die Politik. Die Genehmigungsverfahren sind massiv komplex. Schlussendlich muss die Politik selbst in den Spiegel schauen und sich fragen: Wollen wir Radsport-Medaillen?", sagt Denk, der als ehrenamtlicher Organisator von Nachwuchs- und Amateurrennen regelmäßig mit den Problemen konfrontiert wird.

Radrennen-Sterben beim Nachwuchs

Das Sterben habe längst begonnen, sagt Kittel, der auch auf die immer höheren bürokratischen Hürden verweist. "Das macht es für kleine Vereine teilweise unmöglich, eine Veranstaltung auf die Beine zu stellen. Und man darf nicht vergessen: Die Ehrenamtler machen es aus Liebe zum Sport. Und wenn die Hürden jedes Jahr immer ein wenig höher gelegt werden, haben die irgendwann auch keinen Bock mehr", sagt Kittel. Zudem sind einige sportliche Leuchttürme in Form von Eintagesrennen von der deutschen Radsportlandkarte verschwunden. "Das tut weh und hat einen negativen Einfluss", stellt Kittel klar. Das sei zwar noch nicht überall so, aber ein Trend, so Kittel, ebenso wie die schrumpfenden Starterfelder. Wer ist gefordert? Kittel: "Unter anderem der BDR, der das Bindeglied zwischen Politik, Vereinen und Nachwuchs ist und die Verantwortung trägt".

Denn irgendwo muss man ansetzen, um den Teufelskreis zu durchbrechen, denn wenn die ganz großen Stars, die Vorbilder, die Erfolge fehlen, dann schrumpft nicht nur die Basis, sondern auch die Bühne, vor allem die im Fernsehen. "Die Tour 2022 hat sich gut verkauft, auch ohne großen, herausstehenden Erfolg, aber mit guten Geschichten. Die ziehen weiterhin, die begeistern den Zuschauer", sagt Kittel. Wie die von Simon Geschke, der damals neun Tage im Bergtrikot fuhr, so lange wie kein Deutscher zuvor. Auch der 37-Jährige schlägt Alarm. "Das ist keine schöne Entwicklung", sagt Geschke. "Nach den großen Skandalen sind die Nachwuchsrennen in Deutschland alle weggefallen. Als deutscher Nachwuchsfahrer ist es superschwer, den Sprung ins Profigeschäft zu schaffen."

Auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist Radsport nicht mehr so gefragt wie früher, der Giro findet dort nicht statt. Außerdem wächst die Konkurrenz, und wenn die mehr Leute anzieht, muss der Radsport weichen. "Es würden manche Leute gerne mehr machen, aber es müssen aufgrund der Konkurrenz harte Entscheidungen getroffen werden. Der Sport hat es aber selbst in der Hand, dass das Interesse mit dem Erfolg zurückkommt", so Kittel, der selbst auch als TV-Experte im Einsatz ist.

Zu hartes Vorgehen gegen Doping?

Nun könnte man provokativ fragen: Hat man im Radsport den "Fehler" gemacht, Dopingvergehen härter zu verfolgen als in anderen Sportarten, weil dadurch viel mehr Fälle publik wurden und negative Publicity die Folge war? "Auf keinen Fall. Der Radsport kann sich nicht mit viel rühmen, aber das harte Durchgreifen aufgrund des Drucks von allen Seiten ist absolut positiv und die Basis des Erfolgs des Radsports heute, dass wieder so viel möglich ist", stellt Kittel klar. Denn so wie in Deutschland läuft es längst nicht überall, "international gibt es ein starkes Wachstum, weil die Sportart wieder populär wird", so Kittel: "Deutschland tut sich da weiterhin schwer, weil immer noch eine Enttäuschung von früher mitschwingt. Die Begeisterung zurückzubekommen, die Glaubwürdigkeit, das hat gedauert. Aber es hat sich in Deutschland viel getan, es ist nicht alles schlecht, weil es auch immer noch viele Fans gibt."

Denn für Kittel hat der Radsport nach wie vor einen sehr guten Ruf. Oder wieder einen sehr guten, so der 35-Jährige: "Viele, die sich vor zehn, 15 Jahren enttäuscht abgewendet haben, haben den Weg zurückgefunden vor den Fernseher und an die Strecken. Dieser Sport kann - unabhängig von den Profis - unheimlich viel geben." Er muss sich in Deutschland nur ein Stück weit neu erfinden.

Verwendete Quellen:

  • Sportschau.de: Deutscher Radsport in der Krise - Denk "Waren mal besser"
  • Interview mit Marcel Kittel
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