Kira Grünberg hält bis heute den österreichischen Rekord im Stabhochsprung. Vor neun Jahren verletzte sich die heute 30-Jährige bei einem Trainingssprung so stark, dass sie seither vom fünften Halswirbel abwärts querschnittgelähmt ist. Nach dem Unfall gab es große internationale Anteilnahme.

Ein Interview

Seit 2017 sitzt Kira Grünberg für die Österreichische Volkspartei im Nationalrat – als einziger Mensch im Rollstuhl. Bei der Wahl im Herbst will die Tirolerin wieder antreten. Ein höheres politisches Amt strebt sie zwar nicht an. Aber das, meint Grünberg im Interview, liege nicht an ihrer Behinderung.

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Sie haben einmal gesagt, dass Sie gleich nach dem Unfall wieder nach vorne gesehen haben – während alle anderen um Sie herum am Boden zerstört waren. Was sagt das über Sie aus?

Kira Grünberg: Die Frage habe ich mir auch schon oft gestellt. Es war einfach so, ich habe das nicht gesteuert. Das könnte man wohl auch kaum. Als Sportlerin habe ich viel Mentaltraining gemacht. Da lernt man, mit Hürden und Niederlagen umzugehen. Vielleicht hat das mit eine Rolle gespielt. Aber eine wirkliche Erklärung habe ich nicht gefunden. Es bleibt mir selbst immer noch ein Rätsel.

In der Wissenschaft spricht man von Resilienz: Manche Menschen können schwere Schicksalsschläge von Natur aus besser wegstecken als andere.

Ich glaube auch, dass man sich das nicht wirklich antrainieren kann. Oder nur bis zu einem gewissen Ausmaß. Was sicher auch wichtig war: Ich hatte einen extrem starken Familienverband auf meiner Seite, ebenso einen engen Freundeskreis. Auch meine Trainingskolleginnen und Trainingskollegen standen voll hinter mir. Ich habe mich in der ersten Zeit nach dem Unfall nie allein gefühlt, weil ich immer wusste: Wenn ich etwas brauche, gibt es Menschen, die ich anrufen kann.

Es gibt aber auch Menschen, die trotz intakten Umfelds in Depressionen verfallen, sich aufgeben.

Ja, ich kenne viele Querschnittgelähmte, die nach dem Unfall in ein schwarzes Loch gefallen sind. Und wiederum welche, für die es ein Wachrüttler war. Den einen, richtigen Weg, so etwas für sich zu verarbeiten, gibt es wohl nicht. Alle müssen diese Zeit für sich selbst durchleben, da gibt es kein richtig oder falsch. Es ist so, wie man es halt erlebt. Mir haben viele gesagt: "Kira, du wirst irgendwann in ein schwarzes Loch fallen."

Die Psychologie kennt unterschiedliche Phasen, die man nach einem solchen Schicksalsschlag durchlebt und das schwarze Loch gehört meist dazu. Bei mir kam es nicht. Dann hat man mir gesagt, es kommt, wenn man wieder zurück in die vertraute Umgebung kommt. Oder nach einigen Monaten. So nach zwei Jahren dachte ich mir dann: "Okay, vielleicht kommt es einfach nicht." Und es kam nicht.

Aber es gab dunkle Momente?

Die selbstverständlich. Dass es mit einem durchgeht, dass man mit dem Schicksal hadert. Aber das hat nie mehrere Tage oder gar Monate gedauert. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich nicht weiß, wie mein Leben weitergehen soll.

Interviews zur Verarbeitung

Gab es einen Moment, wo sie gemerkt haben: Das ist jetzt meine Geschichte, über die ich reden kann, ohne dass es weh tut?

Das hat natürlich gedauert. Aber ich bin ein Mensch, der viel mit Reden verarbeiten kann. Und ich habe von Anfang an viele Interviews gegeben. Am Anfang war ich unschlüssig. Man gibt ja sehr viel Privates preis. Und ich wollte ja auch nicht unbedingt von dem Unfall erzählen. Aber je öfter ich meine Geschichte erzählt habe, desto leichter fiel es mir. Es half bei der Verarbeitung.

Ich habe mir selbst viele Fragen gestellt, dann kamen von außen andere Fragen. Durch die Interviews bekam ich eine umfassende Perspektive darauf, was geschehen war. Mittlerweile macht es mir überhaupt nichts mehr aus, über den Unfall zu sprechen oder über die Zeit im Krankenhaus. Am Anfang war das nicht so. Da musste ich bei Interviews immer wieder mit den Tränen kämpfen.

Ab wann sind die Tränen ausgeblieben?

Ich würde sagen, so nach vier bis fünf Monaten. Da konnte ich schon sehr gut damit umgehen.

Haben Ihnen die Gespräche mit Journalistinnen und Journalisten bei der Verarbeitung geholfen Oder das Wissen, dass viele Menschen lesen, was Sie sagen?

Dass das Interview erscheint, hat jetzt nicht unbedingt einen Einfluss gehabt. Eher, dass ich mit fremden Menschen darüber spreche. Das ist ja etwas Anderes, als wenn ich das einem guten Freund oder einer guten Freundin erzählen würde.

Trotzdem haben Sie sich damit einem Millionenpublikum mitgeteilt. Was hat das für Sie bedeutet?

Es gab extrem viel Zuspruch, gerade in der ersten Zeit. Ich habe handgeschriebene Briefe bekommen. Jemand, der in der Zeitung über mich gelesen hat, hat sich hingesetzt und mit der Hand einen Brief geschrieben! Meine Angehörigen haben sie mir damals vorgelesen, weil ich am Anfang noch nicht in der Lage war, mich auf das Lesen zu konzentrieren. Das ist mir schon sehr nahe gegangen. Das war ein schönes Gefühl.

Von der Sportlerin zur Politikerin

Wie die meisten aktiven Sportlerinnen und Sportler haben Sie sich politisch nicht exponiert. Dann kam ein Angebot von Sebastian Kurz, damals Chef der konservativen ÖVP, auf seiner Wahlliste zu kandidieren. Wie lange haben Sie überlegt? Und was gab den Ausschlag?

Ich hatte etwa eine Woche Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Ich bin immer wählen gegangen und wusste ungefähr, was in der Politik geschieht. Aber wahnsinnig interessiert habe ich mich damals nicht dafür. In der Reha habe ich mich dann mit vielen anderen Leuten unterhalten, auch mit solchen, die schon lange im Rollstuhl sitzen.

Aus ihren Erzählungen wusste ich, wie viele Barrieren es noch immer in Österreich gibt. Was sich für querschnittgelähmte Menschen in Österreich verbessern müsste. Und weil ich auch so viel Zuspruch bekommen habe, dachte ich mir: Jetzt ist es an der Zeit, etwas zurückzugeben – wenn ich schon die Möglichkeit habe, etwas zu verändern.

Hätten Sie ein Angebot von einer anderen Partei auch erwogen?

Eigentlich nicht. Es hat schon so gepasst. Als Sportlerin habe ich einen Leistungsgedanken, der sich am ehesten in der ÖVP widerspiegelt. Und mir hat auch das junge, dynamische Team um Sebastian Kurz zugesagt.

Wenn Sie Ihre bisherige politische Karriere rekapitulieren: Haben Sie mehr erreicht, indem Sie durch ihr Vorbild Menschen mit Behinderungen stärker in die Mitte der Gesellschaft geholt haben? Oder durch konkrete gesetzliche Verbesserungen?

Es ist extrem wichtig, Menschen mit Behinderungen stärker in die Öffentlichkeit zu holen, damit sie gesehen werden. Ich denke da auch an Leute mit einer Sehbehinderung, gehörlose Personen oder Menschen mit Lernschwierigkeiten. Sie bringen neue Perspektiven ein. Und sie sind vielfach kreativer und bessere Problemlöser, weil sie in ihrem Alltag immer wieder mit Barrieren und Hürden konfrontiert sind.

Was konnten Sie als Abgeordnete erreichen?

Ein großes Anliegen von mir war und ist die Persönliche Assistenz. Hier wird in Österreich zwischen Assistenz am Arbeitsplatz und Assistenz in der Freizeit unterschieden. Die Assistenz am Arbeitsplatz ist Bundessache, da gibt es eine gute Regelung. Für die anderen Bereiche sind die Bundesländer zuständig, das ist unterschiedlich gut gelöst.

Vor eineinhalb Jahren haben wir daher seitens des Bundes einen Topf dafür eingerichtet, an Kriterien und Mindeststandards geknüpft, die in Zusammenarbeit mit der Community erarbeitet wurden. Bisher haben sich bereits vier Bundesländer in Richtung Harmonisierung auf den Weg gemacht.

Haben Menschen mit Behinderungen einen anderen Zugang zur Politik, wenn es um Themen wie Gleichberechtigung geht?

Das würde ich nicht behaupten. Ich bin viel im Austausch mit Studierenden, die einen Sozialberuf ausüben möchten. Viele von ihnen sind schockiert, wenn sie erfahren, dass ihre Klientinnen und Klienten Parteien aus dem rechten Spektrum wählen. Nicht das ganze Leben dreht sich um Behinderung. Wir haben ganz unterschiedliche Weltanschauungen.

"Weil ich Teil einer Minderheit bin, muss ich nicht zwangsläufig für eine andere Minderheit einstehen. Ich kann da nicht für andere sprechen, nur für mich."

Kira Grünberg

Man sollte meinen, dass Angehörige einer Minderheit weitaus mehr Verständnis für die Nöte anderer Minderheiten haben – ob es sich nun um Menschen mit Behinderungen handelt, solche mit Migrationshintergrund oder auch Angehörige sexueller Minderheiten.

Ich glaube, man kann da nicht pauschalieren. Weil ich Teil einer Minderheit bin, muss ich nicht zwangsläufig für eine andere Minderheit einstehen. Ich kann da nicht für andere sprechen, nur für mich. Meine Einstellung hat sich seit dem Unfall nicht geändert. Ich war allerdings auch vorher schon sehr offen bei diesem Thema.

Wie erklären Sie als Abgeordnete der größeren Regierungspartei Leuten aus Deutschland die momentane Situation der österreichischen Innenpolitik?

Sie meinen die Umfragen?

Ja. Die FPÖ, eine Schwesterpartei der AfD, liegt seit mehr als einem Jahr mit gut 30 Prozent auf Platz eins. Warum?

Es ist eine Sache, jetzt bei Umfragen zu sagen: "Ich wähle die FPÖ". Eine andere ist es, bei der Wahl im Herbst wirklich ein Kreuz bei dieser Partei zu machen. Warten wir ab. Wir haben extrem viele gute Maßnahmen und Gesetze beschlossen. Es wurde nur oft nicht so kommuniziert, dass es bei den Menschen ankommt. Wenn ich im Freundeskreis erzähle, was wir schon alles gemacht haben, heißt es oft: "Cool, warum wissen wir das nicht?"

Sie wollen wieder in den Nationalrat einziehen?

Ich werde mich auf jeden Fall zur Verfügung stellen, ja.

Ohne jetzt Spekulationen anzuheizen: Könnten Sie sich ein Ministeramt vorstellen? Oder gar jenes der Bundeskanzlerin?

Momentan nicht. Ich sehe mich selbst nicht in einem Regierungsamt.

"Es geht darum, Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, so wie allen anderen auch."

Kira Grünberg

Was würden Sie Menschen gerne mitgeben für den Umgang mit jenen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind?

Kann man lernen, wie man mit Menschen mit Behinderungen umgehen soll? Was soll man da lernen? Es geht darum, Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, so wie allen anderen auch.

Darf man fragen: "Warum sitzt du im Rollstuhl?" Oder ist das kränkend?

Das fasst jeder anders auf. Wenn man wen fragt: "Wieso hast du eine Glatze?", dann kann das für den einen kränkend sein, weil er gerne Haare hätte. Ein anderer hat sich die Glatze schneiden lassen, weil er das schön findet. Worauf ich hinaus will: Für manche Menschen, die nach einem traumatischen Erlebnis im Rollstuhl sitzen, kann die Frage sehr verletzend sein und viel hochkommen lassen.

Vielleicht hatten sie einen Unfall, bei dem ein lieber Mensch ums Leben gekommen ist. Darüber will man nicht mit Wildfremden sprechen. Mir persönlich macht es nichts aus, aber ich kann nur für mich sprechen. Es sollte auf jeden Fall nicht die erste Frage sein. Ist es denn wirklich so wichtig? Ich will ja den Menschen kennenlernen. Die Behinderung ist offensichtlich. Aber sie tut eigentlich nichts zur Sache.

Ein Freund, der im Rollstuhl sitzt, meint: Er habe kein Problem mit direkten Fragen. Kränkend seien komische Blicke und Tuscheln hinter seinem Rücken.

Da ist es besser zu fragen, stimmt. Am nettesten ist es, wenn Kinder fragen. Die sind offen, unvoreingenommen und haben echtes Interesse. Ihr Verhalten hängt aber auch oft von jenem ihrer Eltern ab. Davon, wie offen diese sind. Manche Eltern sagen: "Schau nicht hin." Da fände ich es besser, sie fragen, ob ihre Kinder die Behinderung ansprechen dürfen. Es ist ja nichts Ansteckendes: Man sitzt nicht am nächsten Tag im Rollstuhl, wenn man ein Gespräch mit Menschen im Rollstuhl führt.

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Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf im Umgang der Gesellschaft mit Menschen, die eine Behinderung haben?

Schon darin, dass man uns zu wenig zutraut. Sie haben mich ja auch gefragt, ob ich es mir zutrauen würde, Bundeskanzlerin zu werden.

Nun, ich würde es mir nicht zutrauen, Bundeskanzler zu werden.

Ich mir auch nicht. Aber das hat nichts mit meiner Behinderung zu tun.

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